Laura Leander 01 - Laura und das Geheimniss von Aventerra
anders!
Wenn ich nur endlich wüsste, was an diesem verflixten einundzwanzigsten Dezember des letzten Jahres passiert ist, grübelte Laura. Es kann doch nicht sein, dass jemand einfach so verschwindet, ohne eine Spur zu hinterlassen. Er kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben. So etwas gibt es doch einfach nicht!
Plötzlich bemerkte Laura, dass Sayelle sie aus schmalen Augen anstarrte und dabei lautlos den Mund auf und zu machte wie ein Fisch im Aquarium. Aber da drangen Sayelles Worte auch schon an Lauras Ohr.
»Träumst du, oder hast du es einfach nicht nötig, mir zu antworten?«, fragte sie. Ihr Ton war gereizt.
Na, bitte!
»Sorry«, antwortete Laura schnell. »Ich war in Gedanken.«
»Ich hab gefragt, ob du es nicht vernünftiger fändest, dich hinzusetzen und für die Schule zu lernen, anstatt dich mit deinem Pferd zu vergnügen!«, sagte Sayelle streng.
Laura erwiderte nichts.
Sayelle ließ nicht locker. »Jedenfalls würde ich das so machen, wenn ich in Mathe und Physik auf einer glatten Fünf stände!«
»Ich hab doch gestern den ganzen Tag gelernt«, murmelte Laura leise.
»Das ist auch dringend nötig!«, erwiderte Sayelle vorwurfsvoll. »Oder willst du wieder durchrasseln wie im letzten Jahr? Du weißt doch, was das bedeutet - du musst Ravenstein verlassen, weil man eine Klasse nicht zweimal wiederholen kann. Das würde dir doch auch nicht gefallen, oder?«
Laura wollte zu einer heftigen Antwort ansetzen, doch dann schwieg sie lieber. Natürlich hatte sie grässliche Angst davor, wieder sitzen zu bleiben und vom Internat zu fliegen. Diese Angst war manchmal so schlimm, dass ihr richtig schlecht wurde. Aber das ging Sayelle doch nichts an! Die würde sie doch nicht verstehen - und helfen konnte sie ihr schon gar nicht. Ganz bestimmt nicht! Deshalb erwiderte Laura nur trotzig den vorwurfsvollen Blick ihrer Stiefmutter.
»Mensch, Laura, werd doch endlich vernünftig«, sagte die in einem fast flehenden Ton. »Ich will doch nur dein Bestes, verstehst du das nicht? Ich weiß doch, wie gerne du im Internat bist! Und noch ist ja nichts verloren. Du hast bis zum Ende des Schuljahres noch genügend Zeit, um die schlechten Zensuren auszubügeln! Allerdings ...« Sayelle seufzte, bevor sie mit leichtem Kopfschütteln fortfuhr: »... wenn du nicht endlich vernünftig wirst und dich auf den Hintern setzt und lernst, dann sehe ich schwarz. Ziemlich schwarz sogar!«
Laura schluckte. Ihre Augen waren noch schmaler geworden, aus den Schlitzen funkelte der pure Trotz. »Ich werde nicht sitzen bleiben«, flüsterte sie. »Das garantiere ich dir!«
Der eiskalte Wind schlug Laura ins Gesicht und piekte ihre frostroten Wangen wie winzige Stecknadeln. Obwohl sie in ihren dicken roten Stepp-Anorak gehüllt war, warme Wollhandschuhe trug und sich ihre Dock-Mütze tief über die Ohren gezogen hatte, setzte die Kälte ihr ganz schön zu. Aber gab es etwas Schöneres als Reiten?
Auf einer kleinen Anhöhe zügelte Laura ihr Pferd und schaute sich um. Die hügelige Landschaft erstreckte sich bis zum Horizont. Der morgendliche Raureif war längst verschwunden, und Felder und Wiesen waren leer und grau. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Nur das Heulen des Windes und das Schnauben ihres Pferdes drangen an Lauras Ohr.
Sturmwind war ein prächtiger weißer Hengst. Seine Mähne und der Schweif allerdings waren schwarz. Fast unbeweglich stand er da. Das Mädchen auf seinem Rücken schien er kaum zu spüren. Aus seinen Nüstern stiegen kleine Wolken auf, und sein Leib dampfte. Das Fell war schweißnass.
Kein Wunder - nachdem Laura den Hof von Bauer Dietrich verlassen und das freie Feld erreicht hatte, hatte sie die Zügel gelockert, und Sturmwind hatte die ungewohnte Freiheit genutzt. Gerade so, als wolle er die Enge des Stalles mit aller Gewalt von sich abschütteln, war er im Galopp davongeprescht - ein stürmischer, wilder Ritt, wie Laura ihn kaum jemals zuvor erlebt hatte. Während die Pferdehufe wie rasend trommelten, war die Welt förmlich vorbeigeflogen, bis Laura sie gar nicht mehr richtig wahrzunehmen schien. Das Einzige, was noch von Wichtigkeit gewesen war, waren sie und ihr Pferd. Die unbändige Kraft von Sturmwind schien sich auf Laura zu übertragen, und im gleichen Augenblick fiel alle Angst von ihr ab. Die Angst, vom Pferd zu stürzen und sich zu verletzen, die Angst, in der Schule zu versagen - sie waren wie weggepustet. Laura fühlte sich plötzlich leicht und unbeschwert, und es kam ihr
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