Laura Leander 02 - Laura und das Siegel der Sieben Monde
wurde Laura mit Macht auf die Skier gepresst. Sie musste aufpassen, dass sie nicht aus der Bahn getragen wurde. Gleich nach der Rechtskurve führte ein längeres Flachstück auf eine Kante zu, hinter der der steilste Abschnitt der Strecke lag. Laura wusste, dass genau dort ihre Chance lag.
Ihr Bruder war in den letzten Tagen stets davor zurückgeschreckt, den Steilhang in voller Geschwindigkeit zu durchfahren, denn wie der riesige Rachen eines Ungeheuers, das alles zu verschlingen droht, gähnte an dessen Fuße die tiefe Schlucht der Höllenklamm. Zwar führte die Piste gut zwanzig Meter davor scharf nach links, aber Lukas fürchtete offenbar, aus der Kurve getragen zu werden und in die Tiefe zu stürzen. Das war im letzten Jahr einem jungen Skifahrer passiert, wie Kevin ihnen erzählt hatte. Jede Hilfe war für ihn zu spät gekommen – ein schrecklicher Unfall, der Lukas wohl nachhaltig beeindruckt hatte.
Laura dagegen ließ sich davon nicht abhalten, stets in voller Fahrt durch das Steilstück zu rauschen. Sie wusste, was sie sich zutrauen konnte, und die Kurve nach dem Hang bereitete ihr nun mal keine Probleme, nicht einmal bei höchster Geschwindigkeit. Wenn es ihr also gelang, das Tempo noch etwas zu steigern, dann könnte sie Lukas spätestens dort überholen.
Laura sah sich noch einmal um. Kevin, der sich rund zwanzig Meter hinter ihr befand, war an seiner quietschgelben Skimütze leicht zu erkennen. Den Skifahrer dagegen, der ihn gerade überholte, kannte sie nicht. Er trug die Kluft der Pistenwacht und war ein exzellenter Fahrer. Fast mühelos ließ er Kevin hinter sich und kam immer näher heran. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis er sie ebenfalls passierte.
An der Kante hob Laura ab. Sie spürte ein leichtes Kribbeln im Bauch, während sie durch die Luft flog. Ein Ruck ging durch ihren ganzen Körper, als sie wieder auf dem Boden aufsetzte. Es gelang ihr aber mühelos, den Aufprall mit den Knien abzufedern.
Das Mädchen beugte sich nach vorn, ging tief in die Hocke und wurde immer schneller. Laura war noch niemals so schnell gefahren. Mit größter Konzentration zischte sie davon, den Blick starr auf die steile Piste gerichtet, während der Rest der Welt als verschwommenes Weiß am Rand ihres Gesichtsfeldes vorüberrauschte.
Mit einem Male spürte Laura Gefahr. Wie ein Blitz zuckte die Ahnung durch ihr Gehirn, dass irgendetwas nicht stimmte.
A ber was?
Da hörte sie das Schlagen von Skiern hinter sich. Trotz der irrwitzigen Geschwindigkeit drehte sie den Kopf und sah den Pistenwachtler heranbrettern. Er war im Begriff, sie zu überholen. Sollte er doch! Schließlich ging es bei der Wettfahrt nur um ihren Bruder, Kevin und sie.
Der Mann fuhr nun direkt neben ihr. Plötzlich fiel ihr auf, dass er sich reichlich merkwürdig verhielt. Er starrte unentwegt auf ihre Skier. Oder waren es die Skistiefel, die er ins Visier genommen hatte?
Was soll das?, wunderte sich Laura. Was ist so besonders an meinen Stiefeln?
Der Kopf des Mannes verschwand fast vollständig in der Kapuze seines Dienstanoraks, und seine Augen waren hinter einer verspiegelten Skibrille verborgen. Dennoch kam er Laura auf merkwürdige Weise bekannt vor. Obwohl sie niemanden von der Pistenwacht kannte, war sie sich ganz sicher, dass sie diesem Mann schon einmal begegnet war. Mehrere Male sogar. Wie aus dem Nichts stieg ein ungeheuerlicher Verdacht in ihr auf: Wenn sie nicht alles täuschte, dann war dieser Mann niemand anderer als -
Da lösten sich die Skier von ihren Füßen. Laura wurde von den Beinen gerissen und wirbelte durch die Luft. Die Welt um sie herum drehte sich wie die Trommel einer riesigen Waschmaschine. Das Mädchen schlug auf dem eisigen Boden auf, spürte aber nichts. Keinen Aufprall. Keinen Schmerz. Nichts.
Wieder und wieder überschlug es sich und wurde aus der gewalzten Spur getragen. Der lockere Schnee neben der Piste stob hoch auf, während Laura verzweifelt versuchte, den mörderischen Sturz zu bremsen. Doch da war nichts, woran sie sich hätte festhalten können – und dann sah sie durch die Wolke aus weißem Staub, dass sie unaufhaltsam auf den Abgrund der Höllenklamm zuschlitterte.
D er Hüter des Lichts seufzte leise und schüttelte den Kopf. Dann wandte er sein zerfurchtes Antlitz, in dem endlose Jahre tiefe Spuren hinterlassen hatten, einem Mädchen mit blonden Zöpfen zu. In ein schlichtes weißes Gewand gehüllt, stand es inmitten des riesigen Thronsaals von Hellunyat vor ihm und schaute ihn
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