Lauras Bildnis
persönlich bezog. So, glaubte er, lächelte sie bei den anderen nicht. Er blickte sie an, während er zahlte. Jemand hinter ihm räusperte sich. War er nicht bereit zu gehen? Warum konnte er nicht hier bleiben und diese Augen und dieses Lächeln ansehen, ohne daß die Zeit verging? Die Stange des Bäckers traf ihn am Oberarm. Er zuckte zusammen, senkte den Blick und stammelte sein »Au revoir« beim Verlassen des Ladens.
Er ging zu Monsieur Bazin ins Museum. Schon oft hatte er hier die Bilder betrachtet, in denen sich die Vorstellung vom großen Liebespaar dem jeweiligen Zeitgeschmack unterwarf. Auf manchen Darstellungen sah Petrarca aus wie ein Geschäftsmann, dessen Geschäfte nicht liefen, auf anderen erinnerte er an einen drogensüchtigen Hippie. Die Darstellungen von Laura variierten weniger stark. Immer diese hohe runde Stirn, dieses in ein Netz eingeschlungenen Haare, dieser Blick zur Seite, der ein wenig fromm und schamhaft und zugleich kokett wirken sollte. Allesamt erinnerten sie an das Porträt der Gentildonna, nur wirkten sie wie stümperhafte Kopien.
In einer der Vitrinen lag ein Stück Stoff. Es war brüchig, und die Farben waren blaß. »Kopfbedeckung einer Frau aus dem 14. Jahrhundert«, stand unter dem Objekt.
Francesco sah es lange an. Es war der einzige Gegenstand im ganzen Raum, der eine Aura hatte. Monsieur Bazin war hinter ihn getreten. Er sah ihm über die Schulter. »Die Webart ist besonders fein. Es ist die einer vermögenden Dame. Muster und Farben verraten dem Kenner, daß es sich um eine verheiratete Dame handelt.«
»Und sie lebte zu Lauras Zeiten?«
»Ja. Das ist gewiß«, sagte Bazin.
»In der Gegend? In Avignon?«
»Auch das ist gesicherter Tatbestand.«
»Hat man die Dame identifiziert? Kennt man ihren Namen?«
»Ja. Man hat ihn identifiziert. Meine Wenigkeit sozusagen. Es ist die Kopfbedeckung Donna Lauras.«
»Da ist ja grandios! Und warum steht das nicht dabei?«
»Es gibt Zweifel an meiner These. Historiker, die phantasieloser sind, als es je eine Wirklichkeit war. Man hat mir nicht geglaubt. Dabei habe ich Beweise. Die Kopfbedeckung wurde hier gefunden. Donna Laura hat sie bei einem ihrer heimlichen Treffen mit ihrem Geliebten zurückgelassen. Als Andenken vielleicht. Oder Francesco hat sie ihr geraubt wie die anderen Dinge auch. Übrigens, hast du dich entschieden?«
»Ja«, sagte Francesco. »Ich habe mich entschieden. Ich habe mich innerlich vorbereitet. Ende der Woche fahre ich zurück.«
»Dann komm heute abend zu mir. Ich werde dir mein Geheimnis zeigen.«
Den Nachmittag über saß er auf der Gartenbank und beobachtete das Ungeziefer, das hier sein Eigenleben führte in seiner unermeßlich großen Welt. Zum erstenmal seit geraumer Zeit fühlte er sich fast leicht. Ein Gefühl, das ihm so selten und kostbar vorkam, daß es ihn wie guter Sekt berauschte. Als es dunkel geworden war, ging er zu seiner Verabredung.
Monsieur Bazin hatte aufgeräumt und saubergemacht.
Die Atmosphäre war beinahe feierlich. Dies wurde durch eine Reihe brennender Kerzen bewirkt und auch durch die Miene und die gemessenen Bewegungen des Gastgebers, der ihn mit einer würdevollen Geste zum Sitzen einlud. »Voilà«, sagte Monsieur Bazin.
Er nahm im Sessel Platz, dessen schadhafte Stellen nun eine gehäkelte Decke kaschierte. Jetzt erst, in der rasch hereinbrechenden Dämmerung, bemerkte er, daß der Raum mit seiner gewölbten Decke und den tiefen Fensterschächten fast einer Kapelle glich.
Monsieur Bazin blieb stehen. Er hob beide Arme und breitete sie aus, als wolle er etwas segnen. »Voilà«, wiederholte er. »Alles auf der Welt ist verrückt. Nur die Liebenden nicht. Sie sind normal. Da sie jedoch die Ausnahme sind, erklärt jeder, der nicht liebend ist, sie für verrückt.«
Bazin machte eine Pause. Sie war kunstvoll. Sie diente dazu, die Aufmerksamkeit der Gemeinde zu erhöhen.
Monsieur entzündete ein Räucherhütchen. Der betäubend süße Duft kämpfte nur kurz mit dem Modergeruch der Wohnung, dann hatte er gesiegt. »Es gibt nur eine Sorte Menschen«, fuhr Bazin fort, »die noch normaler sind als die Liebenden. Das sind die hoffnungslos Liebenden. Sie erleben die Zeit, wie sie wirklich ist. Sie retten sich nicht ans Ufer, sie kämpfen nicht gegen ihre Strömung an, sie lassen sich einfach treiben. Sie lassen sich treiben wie ein Hölzchen, der Mündung zu und hinaus ins freie Meer. Ich möchte sagen, bis in den Tod hinaus, der darin besteht, daß man keine Küste mehr
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