Lauras Bildnis
zurückkam. Dann setzte er sich so, daß er dem Freund sein Profil zeigte. Er sah zu den Fenstern hinaus auf den schattigen Platz. »Wir werden noch einiges zu bereden haben, Francesco. Dies war erst der Anfang. Wir werden uns Zeit nehmen, denn davon haben wir mehr als genug.«
Am nächsten Morgen, als Francesco mit seinem Kaffee auf der Gartenbank saß und den runden Rücken Monsieur Bazins betrachtete, geschah etwas Ungewöhnliches: Madame Régusse erschien. Das war noch nie vorgekommen, seit er hier wohnte. Aus irgendeinem ihm unbekannten Grund vermied sie es, den kleinen Garten hinter dem Haus zu betreten.
Jetzt kam sie auf ihn zu und setzte sich auf die Bank neben ihn. »Es hat den Anschein, daß es Ihnen bei mir gefällt. Ich finde, Sie sind ein sehr angenehmer Mieter.«
Sie legte ihre Hand auf seine. Sie war stark geädert, wie es bei alten Menschen üblich ist. Ihre Innenfläche war kühl und weich. Ein sanfter Druck ging von ihr aus, der ihn erregte. Es war eine unerwartete Zärtlichkeit. Doch er erschrak nicht. Die Berührung besaß eine Selbstverständlichkeit, die ihr alles Falsche nahm. Dann zog Madame Régusse ihre Hand zurück, keinen Augenblick zu früh und keinen Augenblick zu spät. Sie nickte ihm zu und ging wieder ins Haus.
Als er den Kopf wandte und zum Nachbargarten hinübersah, war Monsieur Bazin verschwunden. Dies kam ihm ebenfalls merkwürdig vor, denn nie war sein Freund bisher ohne einen Gruß gegangen.
Abends ging er in die Bar. Monsieur Bazin war da. Aber er wirkte verändert. Er war schweigsam und in sich gekehrt. Francesco setzte sich zu ihm.
Als er das Gespräch auf Madame Régusse bringen wollte, stand Monsieur Bazin abrupt auf und ging. Das Pastisglas vor ihm war umgefallen, und ein dünner Faden der gelben Flüssigkeit rann über die Tischkante.
Endlich begriff Francesco. Madame Régusse war die Laura von Monsieur Bazin. Deshalb zupfte er mit dieser sinnlosen Energie Unkraut im Nachbargarten. Er wollte einen Vorwand haben, in ihrer Nähe zu sein. Wie viele Jahre mochte es schon so gehen!
War es ein Trost, daß es noch andere auf der Welt gab, die von der gleichen Krankheit befallen waren? Nein, dies war kein Trost. Es machte die Sache fast noch schlimmer, denn es nahm ihr auch noch den Glanz der Einmaligkeit.
Er beschloß, Monsieur Bazin einen Besuch abzustatten. Als er vor dessen Haustür stand, zog er die Schelle und lauschte. Schritte kamen näher. Sie waren schwer und unregelmäßig, als schleppe jemand sein Bein nach, trage jemand an einer schrecklichen Last, die ihn niederdrückte.
Dann öffnete sich die Tür. Monsieur Bazin war kaum wiederzuerkennen. So hatte er ihn noch nie gesehen. Sein Gesicht war entstellt von einem Ausdruck des Erschreckens, der kindlich wirkte. Seine dünnen Haare waren schweißverklebt. Der halboffene Mund gab ein leises Stöhnen von sich. Am schlimmsten war es mit den Augen. Sie blickten nicht. Sie waren tot wie die Glasaugen eines ausgestopften Tieres.
»Was ist geschehen?« fragte Francesco.
Monsieur Bazin sagte kein Wort. Er gab ihm auch nicht die Hand; er drehte sich einfach um und schlurfte durch den Gang zurück. Er torkelte dabei und stieß manchmal mit der Schulter gegen die Wand. Offenbar war Monsieur Bazin betrunken.
Sein Zimmer sah schlimm aus. Es waren nicht nur die Unordnung und der Dreck, die Zeitungen auf dem Boden, die verstaubten leeren Flaschen überall, die schmutzige Wäsche, die in den Ecken lag. Es war auch der scharfe Totengeruch eines alten Mannes, der sich nicht regelmäßig wusch.
Monsieur Bazin deutete auf einen Sessel, in dessen Lehnen an manchen Stellen die Sprungfedern gebrochen waren. Er selbst setzte sich auf einen Hocker und stützte den Kopf in die Hände. Er schaukelte wie ein Kind hin und her, das seinen Schmerz bekämpft. Tränen flossen ihm über die Wangen. Und es war, als schwemmte mit ihnen die Blindheit aus seinen Augen.
Auch Francesco begann zu weinen. Zwischendurch nippte er an einem Glas Rotwein, das Monsieur Bazin ihm hingestellt hatte.
Allmählich beruhigten sie sich. Sie sahen sich mit großer Zuneigung an. Dann sagte Francesco:
»Wie lange schon?«
»Dreißig Jahre. Ein wenig mehr, als deine sechzehn Monate!«
Francesco schwieg schuldbewußt.
»Ich war dreißig Jahre alt, als ich sie kennenlernte. Nun bin ich sechzig. Die erste Hälfte meines Lebens ist aus Glas. Durchsichtig und klar wie das Wasser der Sorgue. Die zweite Hälfte ist aus Silber. Undurchsichtig und reflektierend.
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