Lauras Bildnis
durch eine oder mehrere neue schwächen, so wie der gewaltige Ganges vom König der Perser in unzählige und dadurch unscheinbare Flüßchen zerteilt worden ist. Oder aber du fährst bald zurück und machst es wie ich. Du hältst dich in ihrer Nähe auf, bis der dauernde Schmerz die Wunde der Erinnerung heilt. Wenn ein Schmerz vollkommen ist, spürt man ihn nicht mehr. Es fehlen dann die Vergleiche.«
Bazin erhob sich und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. In der Dunkelheit glich er einem Schatten, der übriggeblieben war, nachdem man das Licht fortgenommen hatte.
»Und das Geheimnis?« fragte Francesco.
Monsieur Bazin blieb stehen. Der Schatten zerfloß an den Rändern, löste sich auf. Dann brannte eine Kerze.
»Dort«, sagte Bazin. »In diesem Schrank.«
»Kann ich es sehen?«
Monsieur Bazin schüttelte den Kopf. »Nicht heute. Aber vermutlich bald. Du mußt erst entscheiden, was du tun willst.«
An den folgenden Tagen ging es Francesco weder gut noch schlecht. Er war in einem Zustand melancholischer Fühllosigkeit. Er ging viel spazieren, wanderte an den Sorgueufern entlang, kletterte in die Felsen oder saß stundenlang auf der kleinen Gartenbank und dachte nach auf eine unkonzentrierte Weise, die seinen Gedanken die Eigenschaften von im Wasser treibenden Blättern verlieh. Sie zogen langsam vorüber, halb eingesunken und dazu bestimmt, bald zu verfaulen.
»Ich soll mich entscheiden?« dachte er. »Entscheidungen sind immer lächerlich, sie betrügen immer die eine oder die andere Seite. Entscheidungen sind primitiv, gefräßig und fruchtbar. Eine Entscheidung zieht zwei neue nach sich, diese vier und so fort. Ich will mich nicht entscheiden. Ich will mich geistig vorbereiten.«
Er stand auf und setzte sich gleich wieder. Als drücke ihn auch in diesem Fall die Last einer Entscheidung. »Geistig vorbereiten zur Heilung«, flüsterte er. »Wenn ich sie wiedersehe, muß ich geistig vorbereitet sein. Sie darf keine Macht mehr über mich haben. Jedenfalls nicht mehr so vollkommen. Aber wie soll ich mich geistig vorbereiten? Ich weiß nicht, ob sich mein Körper geistig vorbereiten läßt. Schon wenn ich nur ihr Bild vor Augen habe, wenn ich sie mir nur vorstelle, habe ich Sehnsucht nach ihr. Daran hat sich nichts geändert durch die lange Zeit der Trennung.«
Er gab sich einen Ruck und stand auf. Es ging nicht ohne Entscheidungen. Eine bittere Wahrheit, die sich nur durch die Hoffnung versüßen ließ, die bestmögliche Wahl getroffen zu haben.
Er ging die Straße hinab zum Bäcker. Wie immer war der Laden um diese Zeit voll. Der Bäcker stand vor dem Ofen und holte die Weißbrote mit seiner langen Brotschaufel heraus. Ihr Stiel fuhr wie eine Lanze zwischen die Kunden und zwang sie immer wieder zu Ausweichbewegungen.
Er war froh, daß der Laden so voll war. Nicht nur liebte er die kleinen Dialoge, die im Raum entstanden und vergingen. Er liebte auch den Teiggeruch, die Ofenwärme, die mit der Sonnenwärme kämpfte, und er schätzte es zu warten, um die Bäckerin in Muße betrachten zu können.
Sie bediente am Tresen, griff die Brotstangen aus Körben und Regalen, warf Münzen in die Kasse, bedachte jeden Kunden mit einem Abschiedsgruß und blickte dem nächsten erwartungsvoll in die Augen. Sie war hübsch und für einheimische Verhältnisse mit städtischem Schick gekleidet. Auf dem beigefarbenen Hosenrock waren einige Mehlspuren. Doch die braune Seidenbluse war makellos; in ihrem Ausschnitt pendelte eine winzige rote Koralle an einem Silberkettchen.
Francesco hatte sich in die Bäckerin verliebt. Jedenfalls kam es ihm selbst so vor. Neuerdings ging er auch nachmittags hin und kaufte Kuchenstückchen mit angekohltem Boden und einer fetten, gelben Creme. Er schenkte sie regelmäßig Madame Régusse. »Wie kann so ein hübsches, zierliches Mädchen nur so einen alten, schwabbeligen Kerl heiraten«, dachte er. Er meinte den Bäcker, der sicher um die zehn Jahre jünger war als Francesco.
An den Wochenenden war der Andrang so groß, daß man die Baguettes besser bestellte. Dazu mußte man seinen Namen in eine Liste eintragen lassen. Ihm schien, daß die Bäckerin auf ihn aufmerksam geworden war, denn sie kannte seinen für französische Ohren schwierigen Namen bald auswendig und sprach ihn auch ziemlich richtig aus, wenn sie ihn begrüßte, weil er an der Reihe war.
Sie sah ihn offen an mit ihren dunkelbraunen Augen und wies ihre makellosen Zähne mit einem Lächeln vor, das er augenblicks auf sich
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