Laurins Vermächtnis (German Edition)
Falschgeld-Verteilzentrale genutzt hat. Während der meisten Zeit herrschte reges Treiben im Haus. Soldaten, Geschäftsleute, Diplomaten, auch Gestalten, die Karl Jäger nicht zuordnen konnte, kamen und gingen - manchmal nur für ein paar Stunden, manchmal für ein oder zwei Tage. Durch Beobachten und Belauschen hatte Jäger im Lauf der Monate herausgefunden, dass es bei der ganzen Geschäftigkeit um das Investieren und Verschieben von gefälschten Pfundnoten ging. Wo das Falschgeld ursprünglich herkam, hatte er offenbar nicht in Erfahrung gebracht.
Matthias war angewidert von dem, was er las. Er sah durch diese ganze Sache sein Elternhaus und die Geschichte seiner Familie beschmutzt. Ein gewisser Trost darin war ihm nur, dass sein Großvater offensichtlich keine aktive Rolle bei der Sache gespielt und keinen Nutzen daraus gezogen hatte. Gut - er hatte immerhin den Rest des Krieges ohne Hunger, Dreck, Kälte, Schmerzen und Todesangst überstanden. Aber hätte er denn eine Wahl gehabt? Er hätte sich und seine Frau in Lebensgefahr gebracht, hätte er nicht kooperiert oder etwas über die Vorgänge im Jägerhof verraten. Zumindest sein Haus und damit seine wirtschaftliche Existenz hätte er verloren. Aktiven Widerstand hatte er wohl nicht geleistet, ein Held war er nicht geworden, aber Matthias wollte ihm daraus nachträglich keinen Strick drehen. Es war schon schlimm genug, dass er sich seinen Großvater als Hiwi vorstellen musste, als einen, der SS-Leuten die Betten aufschüttelte.
Matthias stand auf, ging im Zimmer auf und ab und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Nun wusste er also, was die Großmutter meinte, als sie die „SS“ erwähnt hatte. Eines allerdings passte nicht: Sie hatte nicht von „Geld“, „Falschgeld“ oder Ähnlichem gesprochen, sondern von „Gold“ und von der „Reichsbank“. Konnte sie, was damals geschehen war, so falsch in Erinnerung gehabt haben?
Matthias überlegte. Nein, seine Großmutter war bis zuletzt geistig vollkommen klar gewesen. Außerdem: Was bei alten Leuten wohl häufig nachlässt, ist das Kurzeitgedächtnis, aber nicht die Erinnerung an weit zurückliegende Ereignisse. Reichsmark, D-Mark, Lire, Euro, Pfund, Dollar - all das könnte sie vielleicht verwechselt haben, aber „Gold“? Das fällt einem nicht zufällig ein.
Und dann war da ja noch die Geschichte mit Adolf Eichmann.
Es half ja nichts - also: weiterlesen. Falls die Tagebücher des Großvaters sich als Büchse der Pandora entpuppen sollten – er hatte sie ohnehin schon geöffnet.
Er musste erneut versuchen, beim Diagonal-Lesen auf die richtigen Stichworte zu stoßen.
Das erste dieser Stichworte war „Weihnachten“. Üblicherweise begannen die Eintragungen mit einem Datum, über diesem aber stand :
„Weihnachten 1944“
Helene und ich sind wieder alleine. Der lange Spuk ist vorbei. So schnell, wie sie aufgetaucht war, hat sich die SS-Truppe aufgelöst. Wendig hat sich vor drei Tagen von Helene und mir verabschiedet und sich für die „vorzügliche Zusammenarbeit“ bedankt - der Schweinehund. Zum Büttel hat er mich gemacht! Seine letzten Leute haben sich auch aus dem Staub gemacht. Geldschiebereien haben offenbar keine Zukunft mehr. Ich frage mich, was überhaupt noch Zukunft hat. Rundstedt soll im Westen etwas retten, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie er das schaffen will. Und die Russen sind vielleicht bald in Ostpreußen.
Und ich? Bin ich noch ein Soldat, oder gehöre ich jetzt der SS? Oder will mich keiner mehr? Es gibt nicht einmal einen Befehl, den ich befolgen oder verweigern könnte. Ich könnte mich bei einer Dienststelle melden, aber bei welcher? Wendig hat ja nicht einmal gesagt, daß mein Auftrag erfüllt ist. Vielleicht bewache ich hier noch irgendetwas, ohne es zu wissen. Gehe ich, wird man vielleicht sagen, ich hätte meinen Posten verlassen. Melde ich mich nicht bei der Truppe, wird man das womöglich als Fahnenflucht auslegen.
Ich habe die absurde Freiheit, mir auszusuchen, wofür ich zur Rechenschaft gezogen werden will.
Das war der vorletzte Eintrag in dieser Kladde. Der letzte war überschrieben mit:
Silvester 1944
Es ist gespenstisch still. Helene und ich halten das Haus in Ordnung, viel ist ja nicht zu tun ohne Gäste. Wird der Jägerhof überhaupt mal wieder ein normales Hotel sein, mit Gästen, die kommen und gehen, die essen, schlafen, wandern, die Gegend genießen? Im Krieg sicher nicht.
Seit Wendig und seine Leute gegangen sind, habe ich von nichts und
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