Laurins Vermächtnis (German Edition)
„Vater“ nennen. Vielleicht werden Kommissare kommen, die in meiner Bibliothek nach verbotenen Büchern suchen.
Ich kann mich auch entscheiden, meine Muttersprache und meine Wurzeln zu behalten. Aber dann muß ich hier alles andere aufgeben und gehen – in das „Deutsche Reich“. Aber wohin? Ich war noch nie in Deutschland und Deutschland ist groß, es ist in jüngster Zeit noch größer geworden. Wie wird es sein? Es wird auf jeden Fall anders sein, es wird anders riechen, es wird sich anders anfühlen, das Licht wird anders scheinen und die Dolomiten wird es da nicht geben. Es ist einfach eine SCHWEINEREI.
Matthias war versucht, nach der Stelle in den Tagebucheinträgen zu suchen, in der der Großvater über seine Entscheidung zwischen Dableiben und Gehen geschrieben haben müsste. Aber er fürchtete, sich zu verzetteln, zu viel Zeit zu verlieren. Außerdem wusste er aus Erzählungen, wie letztlich das Ringen des jungen Karl Jäger ausgegangen war: Wie die meisten anderen Südtiroler hatte er die „Option für Deutschland“ gewählt. Die erste Konsequenz dieser Entscheidung: Der Schreinergeselle aus Tiers wurde Angehöriger der deutschen Wehrmacht. Noch am Bahnhof von Innsbruck, der ersten Station seiner Reise in die neue Heimat, haben sie ihn eingezogen.
Es half alles nichts. Dieser Abend, diese Nacht würden nicht ewig dauern. Matthias blätterte und blätterte in den einzelnen Bänden und suchte auf die Schnelle nach Stichworten, die ihm möglicherweise weiterhelfen könnten. „Frankreich“, „Helene“, „Griechenland“, „Heimaturlaub“, „Ostfront“ – klang alles interessant, war aber in dieser Nacht wahrscheinlich Zeitverschwendung. Schließlich griff Matthias nach der Kladde, auf deren blauem Einband „1943“ stand.
Er starrte auf das Buch. Egal, was er jetzt erfahren würde - er würde es dann wissen und diese Erkenntnis nicht mehr rückgängig machen können.
Auf den ersten Seiten schrieb Karl Jäger über die schwere Oberschenkelverletzung, die er sich in der Woche zwischen Weihnachten und Silvester in Stalingrad zugezogen hatte, über Todesangst, Schmerzen und das gleichzeitige Bewusstsein, dass ausgerechnet eine Splittergranate, abgefeuert von einem Rotarmisten, ihm höchstwahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Als der „Völkische Beobachter“ am 4. Februar 1943 über das Schicksal der 6. Armee schrieb: „Sie starben, damit Deutschland lebe“ , lag der 24 Jahre alte Leutnant Karl Jäger in einem Lazarett in Bad Tölz und erholte sich langsam von einer Blutvergiftung.
Es dauerte lang, bis Karl Jäger wieder auf dem Damm war. Er hatte das Glück, in Bad Tölz auf Chirurgen zu treffen, denen es gelang, in mehreren Operationen sein linkes Bein zu retten. Die ersten Schritte in ein neues Leben unternahm er auf Krücken. Inzwischen war es Sommer geworden, und der Krieg war im bayerischen Voralpenland weit weg.
Am 25. Juli 1943 wurde Italiens Diktator Benito Mussolini vom Großen Faschistischen Rat in Rom abgesetzt und verhaftet, die neue italienische Regierung schloss am 3. September einen Waffenstillstand mit den Alliierten. Am 10. September errichteten die deutschen Besatzer in Südtirol, Trentino und Belluno die „Operationszone Alpenvorland“.
Zwei Wochen danach erhielt Leutnant Karl Jäger einen Gestellungsbefehl; er habe sich innerhalb von 72 Stunden beim „SS-und Polizeiführer Alpenvorland“ in Bozen zu melden.
„Was um Himmels willen soll ich bei der SS?“ , schrieb Karl Jäger am 24. September 1943 in sein Tagebuch.
Matthias nahm verhalten erleichtert zur Kenntnis, dass die Verbindung zwischen seinem Großvater und der SS auf einem Befehl beruhte, und dass der Großvater über diesen Befehl offenbar nicht begeistert war. Gleichzeitig war ihm aber klar, dass sich das, was seine Großmutter angedeutet hatte, beim weiteren Lesen der Tagebucheinträge nicht in Wohlgefallen auflösen würde.
„Und warum Bozen? Ich würde ja gerne hoffen, daß sie mich nach Hause lassen, jetzt wo ich mein linkes Bein hinterherziehe wie ein altes Weib. Aber sie werden wohl nicht den „SS- und Polizeiführer Alpenvorland“ beauftragt haben, mich daheim herzlich willkommen zu heißen. Dieses „Alpenvorland“ scheint ja eine Art neue Heimatfront geworden zu sein. Vielleicht brauchen sie jetzt Funker, Schreiber oder Ordonnanzoffiziere. Sollte mir ja nicht Unrecht sein, zumal ich Helene wieder häufiger sehen könnte. Aber die SS ist halt ums Verrecken nicht mein Verein. Mit
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