Laurins Vermächtnis (German Edition)
niemandem gehört. Trotzdem habe ich ständig Sorge, daß irgendjemand vor der Tür steht. Am schlimmsten wäre die SS. Ich wäre nicht der Erste, der dafür bezahlt, daß er zuviel weiß. Da wäre es ja sogar noch besser, ich bekäme Besuch von der Truppe. Je länger es nicht die Deutschen sind, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß Amerikaner anklopfen. Meine Uniform hängt im Schrank. Ich weiß nicht, ob ich sie noch einmal anziehen werde. Ich bin nicht scharf darauf, nochmal ein Gewehr in die Hand zu nehmen, aber ich komme mir auch vor wie ein Feigling. Ich habe schon lange nicht mehr darüber nachgedacht, ob es Gott gibt. Wenn ja, dann möge er doch diesen Krieg bald vorbeigehen lassen.
Matthias fühlte sich unwohl deshalb, aber die Haltung seines Großvaters in den letzten Tagen des Jahres 1944 kam ihm läppisch vor. Karl Jäger war ein Erdulder geworden, einer, der lauter nachvollziehbare Fragen stellt, aber nichts in die Hand nimmt. Gleichzeitig hatte er aber auch keine rechte Idee, was der Großvater sinnvollerweise hätte tun sollen. Ihm schien durchaus auch, dass alles, außer zu Hause zu bleiben, sein Leben sinnloserweise in Gefahr gebracht hätte.
Matthias Jäger griff nach dem nächsten Buch, das mit „Tagebuch 1. Januar 1945 bis 31. Dezember 1947“ beschriftet war. Er hastete durch die handbeschriebenen Seiten: viel über Angst, was noch passieren könnte, einiges Lamentieren über erzwungene Untätigkeit, Betrachtungen über den Lauf der Welt. Matthias wurde langsam geradezu ungehalten darüber, dass sein Großvater ihm Zeit stahl in dieser Nacht, in der er keine Zeit zu verlieren hatte, in der er die Geschichte seiner Familie aufklären wollte. Die Gedanken rasten ihm durch den Kopf. Wenn er nichts finden sollte, das das Reden der Großmutter über „Gold“, die „Reichsbank“ und „Eichmann“ erklären könnte, wollte er diese Hinweise dann schulterzuckend übergehen, ebenso wie das seltsame Verhalten seines Bruders und das von Paul Moroder? Und wenn er auf etwas stieß, was wollte er dann tun? Wollte er sagen: „Du Rainer, ich hab’ da was Komisches gefunden in den Tagebüchern unseres Großvaters – Du weißt schon, in den Tagebüchern, die Du mir verheimlicht und vor mir weggeschlossen hast.“ ? Er hatte doch nichts Verkehrtes getan, und trotzdem steckte er in einer bemerkenswert beschissenen Situation.
Es half ja nichts, also weiterlesen. Er war schon im Jahr 1945, und danach dürfte das Stichwort „Reichsbank“ wohl kaum mehr auftauchen.
Es war aber ein anderer Begriff, an dem Matthias Jäger hängenblieb: „SS-Männer.“ Sein Herz begann schneller zu klopfen und er ging zurück bis zum Anfang des Eintrags.
14. April 1945
Sie haben mich nicht vergessen! Der Krieg mag bald zu Ende sein, aber für mich ist nichts vorbei. Gestern Morgen ist ein Wehrmachtslastwagen vorgefahren. Ich hatte ihn schon gehört, bevor die beiden Männer an die Tür gehämmert haben. Zwei Männer in Wehrmachtsuniformen. Sie sagten, sie hätten eine Ladung mit Kisten voller wichtiger Dokumente, „geheime Reichssachen“ und die würden sie jetzt im Jägerhof lagern. Ich habe versucht, ihnen klarzumachen, daß ein Mißverständnis vorliegen müsse, wir seien hier nicht auf deutschem Reichsgebiet, und außerdem sei der Jägerhof ein Hotel. „Reden Sie nicht, Mann“, hat mich der ältere der beiden angeschnauzt, es handele sich auf keinen Fall um ein Mißverständnis. Es gebe da eine Frau – ihre Identität tue nichts zur Sache – die habe hervorragende Kontakte zu „Sturmbannführer Dr. Wendig“. Und diese Frau habe garantiert, der Jägerhof sei ein sicherer Ort und der Besitzer des Hauses ein kooperativer Mann. Ich entgegnete, es könne sich wirklich nur um ein Mißverständnis handeln, ein Hotel sei doch niemals ein sicherer Ort und ihr richtiges Ziel sei bestimmt die Militärkommandantur in Bozen. Aber nichts half. Der Wortführer zog seine P38, hielt sie mir vor das Gesicht und sagte, er habe jetzt genug; sollte ich Widerstand leisten, habe er keine Skrupel, mich hier, an Ort und Stelle, zu erledigen.
Dieser verdammte Wendig! Der kujoniert mich noch, wenn er gar nicht mehr da ist.
Das Argument mit der P38 hat mich durchaus überzeugt. Die beiden haben seelenruhig die Plane des Lastwagens hochgeschlagen, ihre Fracht abgeladen und ins Haus geschafft - zehn offensichtlich recht schwere Holzkisten mit der Aufschrift „Deutsche Reichsbank“. Während der Jüngere wieder hinaus zum
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