Lauter Irre
Küche heruntergekommen war. Vera hatte ihren Bruder noch nie so leichenblass gesehen, und Albert war kein Mensch, den man leicht schockieren konnte.
Natürlich, natürlich, Horace hatte ihm alles gestanden. Albert hatte Horace gezwungen, ihm alles über die andere Frau zu erzählen, die seine Träume heimsuchte. Oder Horace hatte sich vor Albert mit seiner Geliebten gebrüstet, die ihn jede Nacht völlig erschöpfte, weshalb er auch stets spät heimkam und nichts mehr für Vera übrig hatte, seine getreue Gattin.
Einen Augenblick lang wäre Vera vor Wut beinahe ins Schlafzimmer hinaufgestürzt, um ihn zur Rede zu stellen, doch die Kombination aus Esmonds Traumatisierung und dem Gefühl, dass sie mehr zu gewinnen hätte, wenn sie so täte, als wüsste sie von nichts, hielt sie davon ab. Stattdessen ging sie in den Garten hinaus und schritt tragisch zwischen den violetten Blaukissen, den roten Geranien und den ungemein blauen Hängelobelien dahin. Hier, zwischen den Beetpflanzen und dem vertikutierten, unkrautfreien Rasen, konnte sie ungesehen jene Tränen weinen, die ihre neue Rolle erforderte.
Tatsächlich blieb ihre Vorstellung nicht ohne Publikum. Horace beobachtete sie vom Schlafzimmer aus und war ratlos. Er hatte sich an ihre theatralischen, unverhofften Stimmungsumschwünge gewöhnt, daher hätte er unter den gegenwärtigen Umständen etwas Melodramatischeres, Lebhafteres erwartet als diesen nachdenklichen, schwermütigen Auftritt. Eine Frau, die um ihren dämonischen Liebhaber klagte, oder im gegebenen Fall eine Mutter, die um ihren dämonischen Sohn jammerte, schien angemessener als dieses sittsame, trauervolle Wandeln. Ein neuerliches Gefühl der Beklommenheit beschlich ihn. Er hätte nur zu gern gewusst, was dieser verdammte Trottel Albert ihr erzählt hatte. Es musste etwas wirklich Fürchterliches gewesen sein, um sie in solcher Melancholie versinken zu lassen. Horace drehte sich um und versuchte zu schlafen.
10
Als Esmond von der Schule nach Hause kam, hatte seine Mutter ihre Rolle zu Ende gespielt. Der Part war nicht besonders groß und ließ sich nicht in die Länge ziehen, und außerdem war sie entschlossen, fröhlich und munter zu sein, damit ihr geliebter Junge nicht traumatisiert wurde.
»Daddy geht es heute schon viel besser«, verkündete sie, während sie Tee machte und Toast mit Honig bestrich. »Er hat in letzter Zeit so viel gearbeitet, und er muss sich ausruhen, also müssen wir leise sein und dürfen ihn nicht stören.«
»Ich bin doch leise«, erwiderte Esmond. »Ich bin leise, seit ich mit dem Trommeln und mit dem Klavierunterricht aufgehört habe. Und das ist schon eine ganze Weile her.«
»Ja, mein Schatz, du warst sehr brav. Es ist nur so, Daddys Nerven sind nicht besonders … also, er hat sich seelisch übernommen.«
»Du meinst, er hat getrunken«, stellte Esmond mit mehr Einsicht in das Problem seines Vaters fest, als Vera lieb war. Ihr war es lieber, wenn ihr Esmond unschuldig war.
»Ich weiß genau Bescheid, Mum. Er geht jeden Abend ins Gibbet & Goose, wenn er aus dem Zug steigt, und dann sitzt er da und trinkt doppelte Whiskys.«
Vera war entsetzt, wenngleich weniger über die Tatsache an sich als über Esmonds Kenntnisse.
»Das stimmt nicht. Ich meine, vielleicht tut er das ja gelegentlich, aber … woher weißt du das überhaupt?«
»Weil Rosie Bitchall es mir erzählt hat. Ihr Dad ist Barkeeper im Gibbet & Goose.«
»Rosie Bitchall? Dieses grässliche Mädchen, das zu deiner Geburtstagsfeier gekommen ist und mit Richard hinter das Sofa gekrochen ist? Du hältst dich doch hoffentlich von ihr fern.«
Vera war jetzt ernsthaft aufgebracht.
»Sie ist in meiner Klasse, und nächstes Jahr gehen wir aufs selbe College.«
Vera hielt mitten im Einschenken inne und stellte die Teekanne hin. Esmonds simpler Satz hatte den Ausschlag gegeben. Sie wollte auf gar keinen Fall zulassen, dass ihr einziger Sohn sich in ein Flittchen wie Rosie Bitchall verliebte, die einen Ring in der Nase hatte und gelinde gesagt nichts taugte. Laut Mrs. Blewett war der Apfel hier nicht weit vom Stamm gefallen, und besagter Stamm war Rosies Mutter Mabel. Vera wusste genau, was das hieß.
»Nun, Rosie Bitchall hat sich bestimmt geirrt. Wie dem auch sei, genug davon. Dein Onkel Albert war heute hier, um mit Daddy zu sprechen«, berichtete sie, »und er und Tante Belinda haben dich zu sich eingeladen, bis es Daddy besser geht. Ist das nicht nett von ihnen?«
»Ja, aber …«
Mrs. Wiley ließ
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