Lauter Irre
Sommer über zu den Ponsons fahren zu lassen.
Horace lag im Bett, laborierte an seinem Kater und widerstand dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten, während Vera weiterplapperte. Dabei fragte er sich, was zum Teufel Albert ihr erzählt hatte. Es musste wohl überzeugend gewesen sein. Offensichtlich hatte er die Wassertonne hinter der Garage nicht erwähnt. Vera hätte vor Wut den Verstand verloren. Doch stattdessen ließ sie sich darüber aus, was für ein kühler Mensch Belinda war und dass sie nicht sicher sei, ob Esmond gern nach Essex fahren würde. Und wie sollte eine Frau, die selbst keine Kinder haben konnte, überhaupt wissen, wie man einen Jungen wie Esmond, der noch im Wachstum war, richtig ernährte? Esmond war ja so heikel, wenn es ums Essen ging, und außerdem war er doch von zarter Konstitution und …
Horace lauschte seiner Frau, während er sich bemühte, noch kränker auszusehen, als er sich fühlte. Soweit es ihn betraf, konnte Belinda Ponson seinen schrecklichen Sohn verhungern lassen oder ihm das Leben absolut zur Hölle machen, solange sie den Burschen nicht dazu brachte, wieder nach Hause zu fahren.
»Ich muss mich einfach ausruhen«, wimmerte er, zum Teil als Antwort auf seine eigenen unausgesprochenen Gedanken. Er hörte erleichtert, wie Vera seufzte und auf höchst überraschende Weise zustimmte, ohne den Zusatz, er hätte nur gekriegt, was er verdiente, wenn er stockbetrunken nach Hause käme. Stattdessen ging sie nach unten und wartete darauf, dass Esmond von der Schule kam, um ihm mitzuteilen, dass Onkel Albert und Tante Belinda ihn freundlicherweise für die Sommerferien eingeladen hatten.
Nichtsdestotrotz hegte Vera weiterhin Zweifel. Irgendetwas stimmte hier nicht, und dieses Irgendetwas hatte nichts damit zu tun, dass Horace sich betrank oder spät heimkam und davon faselte, Esmond wäre er. Es war nicht einmal der unvorstellbare Gedanke, dass Horace sich an der Börse verspekuliert hatte. Es gab da noch etwas anderes, das ihr zu schaffen machte.
Während sie am Küchentisch saß und Sackbut auf seinem üblichen Platz neben dem Kaktus aus dem Fenster starrte, dämmerte ihr allmählich, was dieses Etwas möglicherweise sein könnte. Und wenn sie recht hatte, dann war Horaces Verhalten, so merkwürdig und verrückt es auch erschienen war, in Wirklichkeit berechnend und zielstrebig und absolut stimmig. Was, wenn Horace eine andere Frau hatte oder, wie es in den Romanen hieß, eine Geliebte? Das würde alles erklären, dass er so früh das Haus verließ und spät zurückkam, das Trinken und wie er in Schulden geraten war. Es erklärte sogar sein schreckliches Benehmen Esmond gegenüber; er hasste ihn, weil Esmond ihn ständig an seine Pflichten als Vater und Ehemann erinnerte. Und natürlich erklärte es, warum er im Bett nichts taugte und sie beim Liebemachen immer alles selbst übernehmen musste.
Als diese furchtbare Überzeugung sie traf und ihr klar wurde, dass sie eine Frau war, der man Unrecht angetan hatte, nein, eine betrogene Ehefrau, und dass Horace nichts anderes war als ein Weiberheld, brandeten widerstreitende Gefühlswogen über sie hinweg. Ihrem ersten Impuls, nach oben zu stürzen und den treulosen Horace zur Rede zu stellen, folgte der Gedanke auf dem Fuße, wie sich dies auf ihren geliebten Esmond auswirken würde. Der arme Junge wäre traumatisiert.
Das war kein sehr geläufiges Wort für eine Frau, die in einer romantisch-verklärten, von Recken bevölkerten Welt lebte, welche Jungfrauen an ihre männliche Brust drückten, Duelle ausfochten, nachdem sie bis zum Morgengrauen getanzt hatten, und dann mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf gewaltigen Rappen dahinpreschten etc. Doch sie hatte das Wort im Fernsehen gehört, und jetzt fiel es ihr wieder ein.
Sie durfte nicht zulassen, dass Esmond traumatisiert wurde. Sie musste ihre Mutterpflicht erfüllen, und wenn das hieß, ihre eigenen Gefühle zu unterdrücken, zumindest einstweilen, dann würde sie das tun. Was nicht bedeutete, dass sie ihrer Wut nicht Ausdruck verleihen würde, sobald Esmond zu den Ponsons abgereist war. Oh, dann würde sie Horace aber was erzählen …
Ein weiterer Gedanke ließ sie innehalten: die Durchtriebenheit und das Geschick, mit dem Horace es fertiggebracht hatte, Esmond aus dem Haus zu schaffen. Irgendetwas hatte er zu Albert gesagt, etwas, das diesen derben Kerl so sehr schockiert hatte, dass er von dem Gehörten ganz offenkundig bis ins Mark erschüttert gewesen war, als er in die
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