Lautlos
desto unbedeutender erschien ausgerechnet, wer dies alles zu denken vermochte – der Mensch. Warum sollte Gott – sofern er existierte – einen Haufen schlecht erzogener Gene lieben, die sich beständig an den Kragen gingen und nebenher ihren Planeten ruinierten? Warum sollten ausgerechnet die Bewohner einer von Milliarden und Abermilliarden Welten dem Schöpfer des Ganzen so wichtig sein? Der nächste Stern zur Erde, Proxima Centauri, lag dreiundzwanzig Billionen Meilen entfernt, vier Lichtjahre, und er war nur einer von einigen hundert Milliarden weiteren Sternen, die zusammen das ergaben, was die Menschen Milchstraße nannten und was den winzigsten Teil einer Struktur aus Galaxienhaufen und Superhaufen ausmachte, die wie Tautropfen auf einem virtuellen Netz hingen, gesponnen um schwarze Räume voll rätselhafter, unsichtbarer Materie. Wessen Gedanken begonnen hatten, diese Regionen zu bereisen oder die der Nanouniversen, des Allerkleinsten, der Moleküle und Atome, der Lichtwellen und Photonen, so wie O'Connor, der mochte an einen Schöpfer glauben – aber kaum daran, dass dieser die Spezies Mensch besonders wichtig nahm, vielmehr in seinem großen Experiment vielleicht gar nicht gemerkt hatte, wie sie plötzlich schimmelpilzartig einen kreisenden Brocken überzog und sich ihrer selbst bewusst wurde.
Warum aber sollte dann der Mensch mehr wert sein als die Ameise? Welche Arroganz trieb etwa einen besoffenen Fußballrowdy von rudimentärer Intelligenz und ständiger Bereitschaft zu Gewalt, der in seinem Leben noch nichts Sinnvolles geleistet hatte, sich für wichtiger zu halten als einen Blauwal oder einen Marder oder eine Heuschrecke?
Wagners Zeigefinger fuhr den schmalen Nasenrücken entlang. Etwas fiel ihr ein, das O'Connor am Nachmittag gesagt hatte, eine Bemerkung über sein Verhältnis zu Paddy Clohessy damals in Dublin:
»Ich hätte mich nicht dazu durchringen können, ihn für so wichtig zu erklären.«
Interessant. Was würde denn passieren, wenn O'Connor jemanden für wichtig erklärte?
Liam O'Connor war kein Menschenfeind, das hatte sie deutlich gespürt. Indem er sich jede Mühe gab, den biblischen Anspruch auf die Untertanmachung der Welt für nichtig zu erklären, schien es Wagner eher, als versuche er nur einer zu sein. Ihr war unklar, zu welchem Zweck. Seine Überheblichkeit brachte ihm zweifellos das Interesse der Öffentlichkeit ein. Er war ihr Hofnarr, ihr Götze, das Objekt ihres Abscheus und ihrer Begierde. Sie alle fragten sich, wie ein so blendend aussehender Mensch so bösartig schreiben konnte. O'Connor tat nichts, um diese Frage zu beantworten, weder den Leuten noch sich selbst. Jede spitze, geistreiche, spöttische, süffisante oder charmante Bemerkung, die er zum Besten gab, verschleierte sein Wesen nur noch mehr. Aber was würde passieren, wenn er seine Menschlichkeit offenbarte, seine Zuneigung, seine Schwäche? Wenn er herabstieg und jemandem sein Herz schenken würde, falls er das überhaupt konnte?
Die Leute wären enttäuscht.
Denn eigentlich wollte niemand eine Antwort. Sie wollten ihn so haben, wie er war, so wie sie den Schauspieler Klaus Kinski hatten haben wollen, der sein Publikum öffentlich beschimpfte, so wie sie einen David Letterman brauchten, der sich über sie mokierte, einen Harald Schmidt, der sie verachtete, einen Stefan Raab, der sie verarschte.
Das war es.
Niemand wollte einen anderen O'Connor als den, der dort oben auf dem Podium saß und von Ameisen erzählte, von Säure, Gift und Tod. Der im Tonfall leichter Unterhaltung verkündete, was kaum jemand, wahrscheinlich niemand im Publikum verstand, und was Wagner in diesen Minuten sonnenklar wurde: Dass sie ihn alle am Arsch lecken konnten.
Plötzlich verspürte sie Sehnsucht nach ihm und die Gewissheit, dass ihre Geschichte kein Happy End nehmen würde.
Einen Moment lang war sie tieftraurig.
Andererseits, warum sollte ihre Geschichte überhaupt ein Ende haben? War Happy End nicht nur ein Wort dafür, dass der Film aufhörte, weil es nichts mehr zu erzählen gab? Alles kam zum Stillstand. Das Abenteuer war durch. Von nun an wurde es piefig und beschaulich, kannte man seine Zukunft bis zum letzten Atemzug.
Wie entsetzlich langweilig!
Ob ihre Geschichte zwei Tage, zwei Jahre oder ein Leben lang dauern würde, was spielte das für eine Rolle? Hauptsache, sie fand statt.
Elende Theoretikerin, dachte sie. Dann lass sie auch stattfinden.
Oben auf dem Podium war O'Connor zum Ende seines Vortrags
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