Lautlos
verlassen.«
Clohessy lächelte knochig.
»Deine Forschungen haben einigen Staub aufgewirbelt in der wissenschaftlichen Welt«, sagte er, ohne auf O'Connors Frage einzugehen. »Man redet vom Nobelpreis.«
»Nominiert. Ich hatte noch nicht das Vergnügen, Walzer vor der Königin zu tanzen.«
»Du wirst ihn bekommen«, sagte Clohessy ruhig. »Du hast immer alles bekommen. Seit Jahren sehe ich dein Konterfei auf den Rückseiten von Bestsellern. Bist du verheiratet?«
»Nein.«
»Keine Schönheit in Sicht, um die Klatschblattidylle zu komplettieren?«
»Es liegt mir nicht, Verträge ohne Garantie und Rückgaberecht zu unterschreiben. Und du?«
»War nahe dran. Aber sie hat die falsche Frage gestellt.«
»Welche?«
»Was denkst du.«
»Oh. Verstehe. Und was dachtest du?«
»Dass ich jemand anderer sein könnte, als ich meinte zu sein. Es war eine harmlose Frage. Frauen stellen sie dutzendweise, weil es sie nervös macht, dass es oben in deinem Kopf einen Bereich gibt, den sie nicht kontrollieren können. Sie haben Angst, deine Gedanken könnten sich zu einer Verschwörung zusammenrotten. Aber im Moment, da sie die Frage stellte, begann sich meine Welt irgendwie aufzulösen.«
»Deine Welt war immer in Auflösung begriffen, soweit ich mich erinnere«, sagte O'Connor. »Es ist unfein, den Frauen die Schuld dafür zu geben. Wohin ich blicke, haben sie bislang noch jede aufgelöste Welt so hübsch zusammengefügt, dass sie hinterher in jeden Setzkasten passte.«
»Du missverstehst mich. Die Frage war lediglich der Auslöser. Oder sagen wir, jemand öffnet den Deckel einer Kiste, auf der du jahrelang gesessen hast, um nicht reinschauen zu müssen, und etwas Böses und Schwarzes kommt herausgekrochen und hat dein Gesicht. Und plötzlich …« Er stockte. Dann sah er O'Connor direkt an. »Kennst du das Gefühl, Angst vor dir selbst zu haben?«
»Angst?« O'Connor schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Abscheu vielleicht, aber nicht Angst.«
Clohessy nickte, als habe er nichts anderes erwartet.
»Der Tag, an dem ich Dublin verließ – es war sechs Monate nach meinem Rauswurf vom Trinity, und ich stand in der Küche ihrer kleinen Wohnung hinter dem Kilmainham Jail und schnitt Zwiebeln für ein Stew. Sie lehnte neben mir am Kühlschrank, nicht weiter weg als du jetzt. Ich ließ das Messer in beständigem Rhythmus auf der Klinge abrollen und schob die Zwiebel dabei millimeterweise voran. Jedes Mal eine kleine Guillotinierung. Ich wusste, wenn ich dieses Messer weiter auf und ab wiege und Zwiebeln drunter durchschiebe, dann gibt es Abendbrot. Das Wissen war intuitiver Natur, ohne dass mir dabei irgendein spezifischer Gedanke durch den Kopf ging. Aber sie hatte gefragt, was ich denke, also dachte ich plötzlich. Ich dachte, Paddy Clohessy, deine Hand umfasst diesen Griff. Wenn du die Hand hebst und damit eine Bewegung nach rechts vollführst, zerteilt die Klinge Luft, und es passiert nichts weiter. Bewegst du sie zwanzig Zentimeter nach links, zerschneidet sie Gewebe, und es stirbt ein Mensch. Wie erstaunlich, es ist dieselbe Bewegung und doch etwas völlig anderes! So wenig musst du tun, um so viel zu bewirken. – Aber natürlich schnitt ich weiter Zwiebeln. Nur war mir klar geworden, wie einfach ich es hätte tun können. Jeder kann es. Anschließend war ich allein, sie ging und deckte den Tisch, und wir unterhielten uns über die Räume hinweg. Mein Mund plapperte, ihrer plapperte, wir füllten die Wohnung mit Geräuschen der Beherrschtheit. Es war, als liefe irgendwo der Fernseher. Ich fand mich am offenen Fenster stehend. Und wieder dachte ich, mit einem schnellen Sprung bist du draußen. Ohne jede Anstrengung. Du musst nur einen geringen Höhenunterschied überwinden, einen Meter zehn vielleicht, wenn überhaupt. Der Schritt aus der Normalität ist so klein, er kostet dich nicht mehr, als eine unbedeutende Distanz zurückzulegen. Und ich dachte, wenn es so einfach ist, warum steigst du dann nicht über den Fensterrahmen und lässt dich fallen?«
»Und? Hast du dich fallen lassen?«
Clohessy schüttelte den Kopf.
»Nein. Aber allein, darüber nachzusinnen, machte mir schlagartig klar, dass ich die Grenze schon überschritten hatte. Die meisten Menschen stellen sich solche Fragen nicht. Sie schließen die Möglichkeit eines Sprungs aus dem Fenster ebenso instinktiv aus wie einen Mord. Solange du dir gewisse Dinge nicht bewusst machst, musst du nicht über sie befinden. Hingegen im Augenblick, da du ein Nein
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