Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lautlos

Lautlos

Titel: Lautlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
Vom Netzwerk:
formulierst, entsteht auf der Gegenseite ein Ja. Und dieses Ja wächst. Es will ausgesprochen sein. Es beginnt dich zu quälen. Jede Minute deines Lebens. Jede verdammte Sekunde. Jeden Moment. Jedes Weiterrücken des verdammten Zeigers auf deiner Uhr!«
    O'Connor schwieg.
    »Die Angst vor dem, was ich tun könnte, wurde in kürzester Zeit unerträglich. Ich begriff, dass sie immer schon in einem versteckten Winkel darauf gelauert haben musste, ihre hässliche Fratze zu zeigen. Ganz gleich, was ich tat, wo immer ich war, wen immer ich traf, augenblicklich kreisten meine Gedanken um die fatalste aller Möglichkeiten. Die Vorstellung wurde zur fixen Idee: Was muss in deinem Hirn, deinem natürlichen Regulativ passieren, dass du jemanden vor ein Auto stößt, ihn erstichst, ihn oder dich verstümmelst, folterst, umbringst? Wie weit bist du davon entfernt? Vom Bösen, meine ich! Beziehungsweise ist es überhaupt das Böse und nicht einfach nur eine besondere Form der Freiheit? Und wenn ja, wie konnte ich mich befreien? Von diesem Druck, der unerbittlich zunahm!«
    Clohessy machte eine Pause. Sein Blick endete wenige Zentimeter vor seinem Gesicht.
    »Gut, ich fragte mich natürlich, ob ich verrückt sei. Ich saß mit dieser Frau am Tisch, wir aßen, und zugleich stellte ich mir vor, wie ich ihr die Klinge über die Kehle zog. Ganz klar, ich musste verrückt sein!
    Aber es kam mir nicht so vor. Ich wollte sie ja nicht ermorden. Ich liebte sie. Ich empfand Panik vor dem Moment, da ich meine Beherrschung verlieren und etwas Grauenvolles tun würde, um das zu zerstören, was ich liebte, und zugleich war da eine unbändige Kraft, die mich trieb, es endlich zu tun, um nicht über dem Schrecken der Hypothese den Verstand zu verlieren. Es heißt, man soll seine Grenzen kennen, das ist Unsinn. Sie zu kennen heißt, sie überwinden zu wollen. Das Problem ist nur, es gibt kein Zurück. Einmal deinem inneren Dämon nachgegeben, und du fährst geradewegs in die Hölle.«
    Er wandte O'Connor sein Gesicht zu und lächelte.
    »Ich glaube, Liam, du hast diese Angst vor dir selbst nie gehabt. Den meisten Menschen ist sie fremd. Das hat uns unterschieden. Du warst zu jeder Zeit weit davon entfernt, mit begangenem Unrecht leben zu müssen. Bei dir war alles nur Spaß. Unter dir hätte es nie eine französische Revolution gegeben, keine Meuterei auf der Bounty, keinen bewaffneten Kampf gegen Imperialismus, Ausbeutung und Unterdrückung. Du magst dich mit dir gelangweilt haben, aber du hast nie unter dir gelitten.«
    »Und ich habe nie jemanden ermordet oder in die Luft gesprengt.«
    »Auch das ist wahr.«
    O'Connor sah hinaus in das vorbeiziehende Schwarz.
    »Warum sind wir hier, Paddy?«, fragte er.
    »Warum? Meine Geschichte verlief anders als deine. Auch eine dieser Kleinigkeiten. Eine minimale Abweichung in unserem charakterlichen Profil, eine Prise Schicksal, ein Maß an Wut, das du nie kennen gelernt hast. Wir differierten um ein μm und drifteten Lichtjahre auseinander. Das gleiche überragende Talent, nur dass aus dir ein angesehener Forscher mit literarischen Ambitionen wurde und aus mir ein Geächteter. Ich habe mich in den Dienst eines Ideals begeben und verloren. Du hast dich der Bürde eines Ideals verweigert und gewonnen. Darin liegt keine Logik und keine Moral, nur eine kuriose Verdrehung, die einem den Glauben an die Menschheit nehmen könnte, wenn es irgendeine Relevanz hätte. Am Ende stehst du hier in deinem piekfeinen Anzug und hast dir einen Namen gemacht. Ich habe mir ebenfalls einen Namen gemacht, nämlich einen neuen. Keiner dieser Namen steht für das, was wir sind. Du hast irgendwie alles richtig angepackt. Ich habe jeden erdenklichen Fehler begangen und überlebe, weil ich mich verleugne. Diese neue Existenz ist meine letzte Chance. Ich wollte dir nur sagen, dass Ryan O'Dea einen guten Job macht und nicht mehr jede Nacht schweißgebadet aufwacht, weil er in ständiger Angst lebt, erschossen zu werden. Dein Besuch heute hätte eine Freude sein müssen für Paddy Clohessy, aber Paddy ist tot. Er fiel einer Reihe von Dummheiten zum Opfer, die ihn nichts Richtiges und nichts Gutes tun ließen. O'Dea möchte hingegen seine Ruhe. Verstehst du, was ich meine?«
    »Ich bin mir nicht sicher.«
    »Ich dachte, es wäre nur fair, unsere gemeinsame Geschichte zu einem Ende zu bringen«, fuhr Clohessy fort. »Ich war in der Buchhandlung, du hast mich nicht gesehen, schätze ich. Mir fiel auf, wie weit du von jeder Lebendigkeit

Weitere Kostenlose Bücher