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Lautlos

Lautlos

Titel: Lautlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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ungewohnt heftige Anwandlung von Besorgnis, sie könne ihm entgleiten, und ging schnell auf sie zu. Die nächste Minute schmolz in einem Kuss dahin, und O'Connor fragte sich ernsthaft, was er unten am Rheinufer sollte.
    Andererseits.
    »Es hat sich etwas geändert«, murmelte er in sie hinein.
    Wagner zog den Kopf zurück und betrachtete ihn.
    »Geändert?«
    »Ja, es ist eine Kleinigkeit dazwischengekommen.«
    Sie sog hörbar Luft in sich hinein und öffnete den Mund. Schnell legte er einen Finger auf ihre Lippen, bevor sie etwas erwidern konnte.
    »Eine Sache von zehn, zwanzig Minuten«, fügte er hinzu. »Lass uns ein Stück von der Bar weggehen, Kuhn muss nicht unbedingt glauben, wir würden ihn zum Narren halten.«
    »Er glaubt es aber. Er ist ja nicht blöde. Was gibt es denn?«
    O'Connor erzählte ihr von Clohessys Anruf. Zwischen Wagners Brauen entstand eine kleine Falte. Skeptizismus stand ihr gut.
    »Ich dachte, du wolltest mit Ryan O'Dea nichts zu schaffen haben.«
    »Der Bursche ist mutabel. Neuerdings heißt er wieder Paddy. Ich will nur sichergehen, dass die Liste seiner Namen damit endet, dann komme ich zurück. Entweder du plünderst schon mal die Minibar in meiner Suite oder gehst zurück zu Kuhn an die Bar.«
    »Beides verlockende Aussichten. Was soll ich in deiner Suite? Die Stehlampe verführen?«
    »Ich mach's kurz. Versprochen!«
    Sie präsentierte ihm einen Schmollmund und begab sich wieder in die elaborate Gesellschaft Kuhns. Der Hüftschwung, mit dem sie in der Bar verschwand, krümmte das Universum auf nie dagewesene Weise. O'Connor verspürte echte Ergriffenheit.
    Ohne Hast ging er nach draußen, schlenderte durch die milde Nacht hinunter zum Ufer und ließ seinen Blick die Promenade erwandern. Er musste nicht lange suchen. Paddy lehnte mit dem Rücken am Geländer. Seine Augen lagen noch tiefer in ihren Höhlen als am Nachmittag. Das Licht der Uferbeleuchtung formte seine Wangenknochen und das Kinn zu einem benasten Totenschädel mit Gestrüpp obendrauf.
    »Paddy«, sagte O'Connor.
    Es klang in seinen Ohren, als habe er in die Vergangenheit zurückgerufen. Nichts wehte herüber als der Nachhall seiner eigenen Stimme. Wo eine Erinnerung hätte leben müssen, war ein Loch.
    Nach kurzem Zögern fielen sie sich in die Arme und schlugen sich auf den Rücken. Es geschah halbherzig und steif. Am Telefon hatten sie zueinander gefunden, als wären keine fünfzehn Jahre vergangen, aber hier draußen, im Angesicht verstrichener Zeit, überkam O'Connor der Eindruck, dem Resultat eines gescheiterten Experiments ins Auge zu sehen. Das Ende einer Geschichte, die man sich geschworen hatte, nie enden zu lassen.
    Eine Geschichte, die nie begonnen hatte.
    »Du siehst gut aus«, sagte Clohessy. Es klang unpassend. Er hielt O'Connor zugleich um die Schulter gefasst und auf Distanz. Im selben Moment schien ihn die Vertraulichkeit der ganzen Szene zu beschämen, und er löste sich und trat einen Schritt zurück.
    »Das späte Licht«, sagte O'Connor nonchalant.
    Clohessy zog die Lippen von den Zähnen.
    »Wir haben uns lange nicht gesehen. Ich gratuliere, Liam. Du bist berühmt. Wie hast du dich eingerichtet in deiner Popularität?«
    O'Connor zuckte die Achseln.
    »Mit Nichtigkeiten. Im Ambiente modisch, im Habitus viktorianisch, nur nicht so formell. Der Cagliostro des modernen Adels. Du weißt ja, das Trinity ist als Institution gedacht, Menschen in das zu verwandeln, was sie am meisten verabscheuen.« Er machte eine Pause und sah auf den Rhein. Gegenüber erstrahlten die Lichter von Deutz. Schiffe glitten durch verquirltes Schwarz, kenntlich an ihren Leuchten. »Reden wir nicht von mir. Viel wichtiger, wie geht es dir?«
    »Ich komme klar.«
    »Tatsächlich?«
    Plötzlich fragte er sich, wozu das alles gut sein sollte. Jetzt hier draußen schien ihm die Idee, Paddy wieder sehen zu wollen, absurd und überflüssig. Zwischen ihnen klaffte ein Graben. Die Entfremdung galt rückwirkend. Vor der erleuchteten Kulisse eines der luxuriösesten Hotels Kölns erkannte O'Connor mit nüchterner Gewissheit, dass sie nie wirklich die gleichen Gedanken geteilt hatten. Der Mann, der ihm dort gegenüberstand, mochte Paddy Clohessy sein, aber die Wirkung seiner Präsenz auf O'Connor war die eines verspäteten Beweises für ein jahrelanges Missverständnis.
    »Wo bist du abgeblieben damals?«, fragte er. »Ich weiß nicht das Geringste über dich, außer, dass du erschossen wurdest, und nicht mal darauf konnte man sich

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