Lautlos
zu Hause war? Würden sie warten oder kommen, weil sie dachten, sie könnten vor ihm in der Wohnung sein und ihn dort empfangen?
Die Entscheidung war gefallen. Sollten sie ihre verdammte Million behalten! Sie würden sie ohnehin behalten wollen.
Am liebsten wäre er durch das geschlossene Fenster nach draußen gesprungen und davongelaufen.
Nichts überstürzen, dachte er. Sieh zu, dass du so schnell wie möglich hier rauskommst, aber mach es richtig. Du bist nicht völlig mittellos. Etwa zwanzigtausend Mark besitzt du in bar. Alle Mitglieder der Gruppe verfügten über eine größere Summe, die sie im Notfall einsetzen konnten. Er brauchte Kleidung, er musste einen Koffer packen, und er musste genau überlegen, was er mitnahm. Seine gefälschten Papiere, alles, was seine Person ausmachte und was vonnöten war, um über die Grenze zu kommen.
Er löschte die Lichter, zog seinen einzigen Koffer vom Schrank im Schlafzimmer und machte sich im Dunkeln an die Arbeit.
WAGNER
Die Wärme, von der sie sich durchdrungen fühlte, entsprang nur zur Hälfte dem Umstand, dass Wagner sich in diesem Augenblick als ausgesprochen weise und konstruktiv empfand. Ihr Vorschlag war von salomonischer Qualität gewesen. Zugleich schien sich ihr ganzes Dasein in eine Art Zwischengeschoss oberhalb der Wirklichkeit verirrt zu haben. Seit sechsunddreißig Stunden schlief sie kaum, trank so viel wie nie zuvor in ihrem Leben und schien ausgerechnet ihre klarsten Gedanken zu träumen. Selbst jenseits der Toleranzgrenze allgemeiner Verkehrskontrollen, bretterte sie mit einem Volltrunkenen in besinnlicher Stimmung durch Köln, um die Realität daraufhin abzuklopfen, ob sie sich in einen kinoreifen Thriller verwandelt hatte.
Wie erwartet stand Ryan O'Dea im Telefonbuch. O'Connor hatte seine Nummer gewählt, aber der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Möglicherweise war er von dem Treffen am Rheinufer noch nicht nach Hause gekommen. O'Connor hatte es vorgezogen, keine Nachricht zu hinterlassen. Also waren sie losgefahren. An jeder zweiten Ampel war ihr nach Umkehren, so absurd erschien ihr zwischendurch die ganze Geschichte. Dann wiederum folgte sie ihrem Verlauf, als gäbe es nichts Naheliegenderes als das Ungeheuerliche. Je näher sie der Rolandstraße kamen, einer mit Altbauten und Bäumen bestückten Allee zur Südstadt hin, desto astraler wurde ihr Empfinden, und sie trat aus sich heraus, kopfschüttelnd ihr Tun verfolgend, während ihr Fuß aufs Gas drückte und O'Connor ihren Nacken kraulte.
In ihren Ohren dröhnte ihr Herz.
Kuhn hatte wenig Begeisterung für den Plan gezeigt, Paddy aufzusuchen. Allem Anschein nach war ihm nicht wohl bei der Sache. Nach einigen Überredungsversuchen und der in Aussicht gestellten Chance, Bruce Willis oder Harrison Ford zu begegnen, die in diesem Film vermutlich mitspielten, hatten sie es aufgegeben. Der Lektor saß an der Bar wie festgeschraubt. Vielleicht dachte er auch nur, sie würden seine Anwesenheit als störend empfinden. Allerdings glaubte Wagner zu wissen, was ihn beunruhigte. In die Rolandstraße zu fahren, war real. Die Gesetze der Fiktion galten nur in Büchern, und jenseits gedruckter Worte war Kuhn alles, nur kein Held.
Umso besser. Letzten Endes.
Die Rolandstraße lag in unmittelbarer Nähe des Volksgartens, einer ausgedehnten Parkanlage mit altem Baumbestand, Biergarten und Entenweiher. Wenn sich die Stadt im Sommer aufheizte, waren die Wiesen bis in die späte Nacht bevölkert. Es roch nach Gegrilltem, und das Schlagen von Bongos und Congas gab den Pulsschlag an. Im Moment hielten sich die nächtlichen Aktivitäten in Grenzen. Als der Golf an der dunklen Silhouette vorbeiglitt, schien der Park menschenverlassen dazuliegen.
Auch in der Rolandstraße war kaum jemand unterwegs. Die wenigen Laternen verstärkten den Eindruck von Verlassenheit. Heruntergekommene Altbauten wechselten sich ab mit aufwendig sanierten Fassaden.
»Liam, was wir hier machen, ist verrückt.«
»Dann ist es wenigstens wahrscheinlich.« O'Connor kniff die Augen zusammen. »Kannst du die Hausnummern erkennen?«
»Ach richtig, Haie sehen ja schlecht! Dein Freund wohnt in Nummer achtunddreißig. Hier ist achtzehn. Und eine Parklücke.«
Mit Schwung beförderte sie den Wagen unter eine Straßenlaterne.
»Das war knapp«, sagte O'Connor.
»Es war präzise. Soll ich im Wagen auf dich warten?«
»Nein, du musst unbedingt mitkommen. Deine Erscheinung vereint in seltenem Maße die Vorzüge, einen Mann gleichzeitig
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