Lautlos
schwarzsilbern vor ihnen lag, klingelte Wagners Handy.
Sie hörte es nicht.
Auf dem Rücksitz des Golf, wo es aus ihrem Blazer gerutscht war, klingelte es weiter, als wolle es sie zurückrufen. Das Display leuchtete in geisterhaftem Grün, und das Wort ANRUF blinkte auf.
Dann herrschte wieder Stille.
KUHN
Kuhn saß, das Nokia ans Ohr gepresst, auf seinem Hocker in der Bar des Maritim und fragte sich, warum Wagner nicht ranging. Sie gehörte zu den Menschen, die mit der kleinen Maschine nahezu verwachsen waren. Sie war immer zu erreichen. Was hielt sie ab?
Ratlos drückte er die OFF-Taste.
Seit einer halben Stunde waren seine Pressereferentin und der verrückte Physiker jetzt fort. An sich waren dreißig Minuten keine lange Zeit, aber sie hatten ausgereicht, Kuhns Hirnkasten in einen Resonator zu verwandeln. Inzwischen schien es ihm eine Ewigkeit her zu sein, dass sie auf die Schnapsidee verfallen waren, diesen Clohessy aufzusuchen.
Es war keine gute Idee gewesen, das zu tun.
Er war beunruhigt. Im Verlauf der einsamen halben Stunde hatten sich seine Gedanken zu Hypothesen aufgeschaukelt, die als aberwitzig hätten gelten müssen, wären sie nicht so ernüchternd schlüssig gewesen. Köln fieberte dem zweiten, dem eigentlichen Gipfel entgegen. Seit Helmut Kohl Kölns regierendem Oberbürgermeister Norbert Burger zwei Jahre zuvor das Medienereignis in die Hand versprochen hatte, um die Rheinländer über den Verlust der Hauptstadt hinwegzutrösten, war die Stadt beseelt vom Odem der Geschichte. Die Weltsicht eines Altkanzlers, der Momente als historisch zu bezeichnen pflegte, bevor sie es wurden, paarte sich mit Schröder'scher Parkettsucht und rheinischem Selbstbewusstsein. Ein exzeptionelles Sicherheitsprocedere hatte schon Monate vor dem denkwürdigen Juni eingesetzt, protokollarische Abläufe von höchster Komplexität hatten ihren Weg durch die Instanzen gefunden und einen logistischen Frankenstein entstehen lassen, den Myriaden von Verantwortlichen mitschufen in der Hoffnung, nicht die Kontrolle darüber zu verlieren. Kompetenzen wurden gegeneinander abgewogen, und Köln wurde zur Schnittstelle des internationalen Austauschs.
Nie zuvor hatten sich so viele diplomatische Vertreter und Sicherheitskräfte unterschiedlichster Nationen hier herumgetrieben. Die einen organisierten, die anderen sahen ihnen auf die Finger, um jedes Risiko auszuschließen.
Aber wie schloss man jedes Risiko aus?
Kuhn wählte O'Connors Nummer. Das Handy des Physikers war ausgeschaltet. Typisch, dachte Kuhn. Wahrscheinlich führte er es nicht einmal mit sich. O'Connor telefonierte ungern. Er hasste es, für jedermann erreichbar zu sein, und benutzte das Mobilephone nur, um seinerseits andere zu erreichen, wenn ihm danach war.
Sollten sie doch machen, was sie wollten.
Grummelnd griff sich Kuhn eine Zeitung, die jemand liegen lassen hatte, und beschäftigte sich mit dem Kölner Lokalleben.
Auch hier nichts als Gipfel.
Wie es aussah, war den Kölnern die Lust am großen Ereignis mittlerweile vergangen. Die Stadt schien im Belagerungszustand. Vergessen, dass Burger den Gipfel ursprünglich in der Messe mit seinem dortigen Pressezentrum hatte unterbringen wollen. Kohl war anderer Meinung gewesen, und die Meinung des Kanzlers hatte zu dieser Zeit immerhin zwei Zentner Gewicht. Volksnah sollte der Gipfel sein. Nicht abgeschottet wie in Birmingham.
Anfangs hatten die Kölner das Gipfelstakkato mit Genugtuung und volksfestähnlicher Ausgelassenheit goutiert, bis sie dahinterkamen, dass sie nun in ihrer eigenen Stadt nichts mehr zu sagen hatten. Am dritten und vierten Juni hatten die Regierungschefs der EU-Länder Köln in Beschlag genommen, fünf Tage später folgten die Außenminister der G-8-Staaten. Fast am Rande trafen sich die katholischen Bischöfe reicher Industrienationen mit ihren armen Brüdern aus den Schuldnerländern, um eine Kölner Erklärung zur Schuldenfrage zu verfassen. Köln war in den Mittelpunkt der Welt gerückt. Ähnliche Aufgebote an Polizei hatte man nicht einmal in den Jahren der RAF-Hysterie erlebt. Grün herrschte vor, einer denkwürdigen Statistik zufolge aufgelockert von 165000 Fleißigen Lieschen, 90000 Geranien und 55000 Fuchsien, die nichts an der Tatsache änderten, dass Köln unter Waffen stand.
Während im Kosovo die humanitäre Katastrophe ihren Fortgang nahm, hatte die Stadt begonnen, sich herauszuputzen. Kosovarische Gehöfte und serbische Brücken gingen in Trümmer, die Stadtväter
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