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Lautlos

Lautlos

Titel: Lautlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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mal machen … Mist! Halten Sie bitte das Brot. Wollen Sie hören, was Silberman mir eben erzählt hat? Wussten Sie, dass Franklin Roosevelt keine Ahnung hatte, was er tun würde, als er zum ersten Mal das Oval Office betrat?«
    »Nein. Warum essen Sie das Brot nicht auf?«
    »Weil …« Kuhn ging in die Hocke, schaffte es irgendwie, seinen Schnürsenkel neu zu verknoten, und kam wieder hoch. »Also, er bat um einen Bleistift und einen großen Block mit weißen Seiten. Verstehen Sie? Er hatte nicht den leisesten Schimmer, was er tun sollte! Erste Amtshandlung, Block holen für den Präsidenten, weil er keinen Plan hat, das lässt sich schon mal in barer Münze ausrechnen. Aber heute …«
    »Wie lange wollen Sie eigentlich noch herumtrödeln?« Wagner wandte ihm den Rücken zu und setzte den Fuß auf die unterste Stufe der Busstiege.
    » …sind Präsidentenübergänge die reinsten Großunternehmen geworden«, fuhr Kuhn unbeirrt fort, während er hinter ihr hersprang. Wagner nahm Platz. Kuhn stopfte sich den Rest des Brotes in den Mund und nuschelte: »Jedes Mal, wenn sie einen neuen Präsidenten an die Spitze wählen, entsteht sozusagen über Nacht ein dreitausendköpfiges Ungeheuer, dreitausend Amateure, die sich Regierungsapparat nennen. Den meisten ist schleierhaft, welche Politik sie machen wollen. Wussten Sie, dass ein Präsidentenübergang Wochen und Monate dauern kann? Einfach um alles zu koordinieren, jedes Ministerium, jeden kleinen Wicht, der irgendwo mit dabei ist. Ich war in Washington, da bekommt man einiges mit. Ich könnte Bücher darüber schreiben! Jeden lieben langen Tag beenden sie mit einer Sitzung, in deren Verlauf ein hochrangiges Gremium die allgemeine Koordinierung zu koordinieren versucht. Ein bürokratischer Alptraum!«
    »Interessant. Was hat das mit Köln zu tun?«
    Kuhn wies mit einer schwungvollen Geste auf das Hyatt, und Wagner musste sich ducken, um nicht aus Versehen erschlagen zu werden. »Glauben Sie, hier wäre das anders? Das ganze Geld geht doch durch den Schornstein, weil jeder jeden zu koordinieren versucht. Politische Logistik ist ein Kostenmonster, das von berufsmäßigen Anfängern geschaffen wird! Sie geben eine Heidenkohle aus einzig für den Zweck, den Durchblick zu behalten. Dieser Gipfel kostet eine zweistellige Millionensumme. Ich gehe jede Wette ein, dass ein Großteil der Kosten nur entsteht, weil Amateure damit betraut wurden. So ist das nämlich.«
    »Ahja.«
    »Ahja! Schröder, unser aller Feldherr, was meinen Sie, was wollte der wohl?«
    Kuhn sah sie erwartungsvoll an. Wagner seufzte.
    »Kanzler werden«, sagte sie um des lieben Friedens willen.
    »Ganz richtig! Und sonst gar nichts. Der wollte tatsächlich Kanzler werden, obwohl er sich für Politik überhaupt nicht interessiert hat. Plötzlich war er's aber, da hat er nachgedacht und sich überlegt, was machen wir denn jetzt? Ein Amateur, sicher mit den allerbesten Absichten. Nur, wissen Sie, was allein diese ersten Wochen uns alle gekostet haben?«
    Wagner sah ihn an, während der Bus losruckelte.
    »Sie reden dermaßen kreuz und quer, dass man Kopfschmerzen bekommt«, sagte sie.
    Kuhn hob die Brauen und pulte etwas aus seinen Zähnen.
    »Ich versuche lediglich, Sie für den politischen Alltag zu sensibilisieren.«
    »Sensibilisieren Sie mich lieber für O'Connor«, schnaubte Wagner. »Gibt es noch irgendetwas, das ich über ihn wissen sollte?«
    Kuhn grinste und sah angelegentlich auf ihre Beine.
    »Eigentlich nicht.«
    »Ich warne Sie. Irgendein dummer Spruch von Ihnen, wenn er vor uns steht, und Sie können sich allein mit ihm rumschlagen.«
    »O'Connor ist der netteste Mensch der Welt«, flötete Kuhn.
    Wagner bedachte ihn mit einem grimmigen Blick. Dann musste sie unversehens lachen, biss sich auf die Unterlippe und sah demonstrativ aus dem Fenster. Über der Deutzer Brücke wehten bunte Fahnen.
    Kuhn machte es seiner Umwelt nicht gerade leicht, ihn zu mögen. Er schien als Kind ohne eigenes Verschulden in ein Fettnäpfchen gefallen zu sein, erwies sich jedoch, was die Erzeugung und Meisterung von Peinlichkeiten anging, als konsequent schmerzfrei. Es fiel ihm nicht auf, wenn er anderen Leuten die Tür vor der Nase zuschlug. Er fand nichts dabei, in Gegenwart einer Dame seinen weit geöffneten Rachenraum zu befingern. Einen Spiegel schien er ebenso wenig zu besitzen wie einen Kamm, durch die Kinderstube war er mit dem Schnellzug gefahren, und was er sich an zweifelhaften Komplimenten gestattete, ging

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