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Lautlos

Lautlos

Titel: Lautlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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herausfand, geschah es schlagartig und ohne Übergang. Vor ihm erstreckte sich die sanft gewellte Ebene, darüber trieb diffuse Hochbewölkung. Im Rückspiegel konnte er die blauschwarze Wand sehen, der er entronnen war.
    Mirko zündete eine Zigarette an, beschleunigte den Wagen und dachte an nichts.
    Auf einer Anhöhe tauchte das Kloster auf. Seitlich bemerkte er einige schwarze Limousinen, schräg dahinter den schwarzen Insektenkörper eines Helikopters. Mirko parkte ein Stück abseits und stieg aus in Erwartung, die weißhaarige Gestalt wie vor zwölf Tagen an der Balustrade stehen und auf das Land hinausblicken zu sehen, aber es war niemand dort. Unter seiner Jacke spürte er die zwei Pistolen. Dass er dennoch keine Chance hätte, sollte ihm der Alte ans Leder wollen, war ihm klar und beunruhigte ihn nicht sonderlich. Leute wie er wurden in Blei oder Silber bezahlt, das war nichts Neues. Im Allgemeinen hatten sie die Wahl.
    Mirko hatte sich für Silber entschieden.
    Er ging die Stufen hinauf. Das Portal war offen. Langsam betrat er den dämmrigen Innenraum.
    »Mirko. Wie schön, Sie zu sehen.«
    Der alte Mann saß dort, wo früher ein Altar gewesen sein musste. Nun hatte man einen Tisch an der Stelle platziert sowie zwei Stühle, deren einer noch frei und ein Stück zurückgeschoben war. Der Alte winkte ihn heran und prostete ihm mit einem Becher zu.
    »Ein Scheißwetter, nicht wahr? Möchten Sie einen Kaffee?«
    »Gern«, sagte Mirko und ließ seinen Blick schweifen. Niemand außer ihnen beiden schien sich in dem dämmrigen Kirchenschiff aufzuhalten. Er wusste, dass das nicht stimmte. Sie waren überall.
    Blei oder Silber.
    Er nahm dem Alten gegenüber Platz, der ihn unter zusammengezogenen Brauen anblitzte und eine Thermoskanne aufschraubte. Köstlicher Duft stieg Mirko in die Nase.
    »Milch? Zucker?«
    »Danke. Nichts von allem.«
    »Pur wie der gesunde Menschenverstand«, grinste sein Gegenüber und schob ihm seinen Becher zu. »Genauso halte ich es auch. Manche Dinge darf man nicht verdünnen oder versüßen. Das ist hier die letzten Jahre viel zu oft gemacht worden.«
    Mirko trank. Nach der Höllenfahrt durchströmte ihn die heiße Flüssigkeit wie ein zusätzliches Jahr Lebenszeit.
    »Was gefällt Ihnen so sehr an diesem Ort?«, fragte er. »Sie kommen den ganzen Weg hier raus, um sich in einer ungeheizten Kirche mit jemandem zu treffen, während draußen die Welt untergeht.«
    Der Alte lachte trocken.
    »Soll ich Sie lieber vor laufenden Kameras empfangen?«
    Mirko schüttelte den Kopf.
    »Das meine ich nicht. Anderswo wäre es auch geheim. Warum nehmen Sie die ganze Mühe auf sich?«
    »Sie kommen doch auch hierher.«
    »Ich folge Ihrem Ruf.«
    Der alte Mann sah ihn mit der Andeutung eines Zwinkerns an. Trotz des Dämmerlichts fiel Mirko mehr noch als bei ihrem letzten Treffen auf, von welch intensivem Blau diese Augen waren. Unwirklich wie ein Postkartenhimmel.
    »Stimmt, Mirko. Sie folgen meinem Ruf. Ich rufe, und Sie fahren zum Arsch der Welt. Und wissen Sie, was? Ich selbst komme aus keinem anderen Grunde hierher. Ich folge einem Ruf. Es wäre mir ein Leichtes, Sie in irgendeinem hübschen Salon zu empfangen, wo wir uns den Kaviar hinten und vorne reinschieben und ein paar Liter Champagner obendrauf kippen. Streng geheim, versteht sich! Ihnen würd's auch besser gefallen, schon klar. Aber Sie haben vielleicht gehört, dass ich zu Absonderlichkeiten und Extremen neige. Warum, glauben Sie, liegen mir dieses Land und seine Geschichte so sehr am Herzen?«
    »Sagen Sie es.«
    Der Alte beugte sich vor und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Weil ich in seiner Erde wurzele. Ich bin ein alter Baum, Mirko, und ich kann Ihnen sagen, das Land hat sein eigenes Leben und einen gewaltigen Puls. Hier in der Wildnis können Sie seine tiefen, unruhigen Atemzüge vernehmen, sein qualvolles Stöhnen. Nicht in irgendeinem komfortablen Louis-Quatorze-Zimmerchen! Das Blut unserer Vorfahren durchströmt das Sediment, die Schreie der Entrechteten mischen sich in den Sturm, der durch die Täler fegt, das Gelächter der Gottlosen! Nur hier draußen hören Sie das. Wo die Sonne herniederbrennt und Ihnen der Wind um die Ohren pfeift, da sind Sie weit genug weg vom narkotisierenden Moder, der den Stätten der Diplomatie entströmt. – Ich sage, wir haben genug geredet! In dem Unwetter, das Sie gerade durchquert und wahrscheinlich aus tiefstem Herzen verflucht haben, erkenne ich die Musik des Aufbegehrens: Nein, wir

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