Lautlos
Blickfeld. Er konnte ihre Gesichter nicht erkennen, aber einer der beiden war dünn und ging leicht gebeugt. Sein Haar war dunkel und wirr. Kuhn erinnerte sich der Beschreibung O'Connors. Wahrscheinlich hatte er Clohessy vor Augen. Der Mann, der halb hinter ihm ging, trug eine dunkle Lederjacke. Sie drehten Kuhn die Rücken zu und gingen die Treppe hinunter.
»Wenn der YAG schießt«, hörte er den Nervösen sagen, »dann wird das ganze System im Bruchteil …«
»Halt endlich den Mund«, unterbrach ihn der Slawe. »Wir …«
Der Rest war nicht zu verstehen. Wispern drang an Kuhns Ohr. Er hörte, wie ihre Schritte sich nach unten entfernten. Einen Moment später fiel die Haustür zu.
Kuhn stand reglos in seiner Nische und versuchte, sich zu beruhigen. Sie waren fort. Worüber hatten sie gesprochen?
Vorsichtig spähte er in den Flur.
Wagner und O'Connor mussten hier sein. Warum sonst parkte der Golf wenige Meter weiter? Sie wollten Paddy Clohessy aufsuchen und waren nicht in dem Wagen, also lag die Vermutung nahe, dass sie in der Wohnung waren.
Du spinnst, dachte Kuhn. Du drehst durch. Was glaubst du, wo du bist? In Hollywood?
Mit behutsamen Schritten, darauf bedacht, den Dielen kein weiteres Knarren zu entlocken, stieg er wieder hinab in den zweiten Stock. Sein Blick fiel auf die Wohnungstür.
Täuschte er sich, oder stand sie einen Spalt offen?
Er ging darauf zu. Nachdem Clohessy und der Slawe fort waren, konnte er eigentlich einen Blick hineinwerfen.
Seine Hand zitterte, als er sie auf den kühlen Messinggriff legte. Geräuschlos und wie in Zeitlupe schwang die Tür auf.
Kuhn war zum Weglaufen.
Stattdessen ging er hinein.
MIRKO
Es entsprach nicht Mirkos Naturell, Mitleid zu empfinden. Heute, im Falle Paddy Clohessys, beschlich es ihn auf eigentümliche Weise. Clohessy hatte etwas Tragisches. Er hätte ein hervorragender Professional sein können. Leider paarte sich sein immenses Können mit völliger Unfähigkeit zu nüchternem Denken. Er hatte das System meisterhaft installiert, war perfekt in seiner Tarnung als Ryan O'Dea aufgegangen. Bis Gefühle ins Spiel kamen. Solange es um Sachverhalte ging, war Clohessy Gold wert. Wurde es emotional, versagte er auf der ganzen Linie.
Sie überquerten die Straße.
»Wo steht dein Wagen?«, fragte Mirko.
»Etwa hundert Meter weiter die Straße hoch. Es sind nur ein paar Schritte, wir können –«
»Wir nehmen meinen«, unterbrach ihn Mirko.
Clohessy blieb stehen.
»Warum müssen wir mit deinem Wagen fahren?«, fragte er.
»Weil ich es sage.« Mirko seufzte und breitete die Hände aus. »Paddy, wir haben keine Zeit zu verlieren. Jede Sekunde, die wir hier herumstehen und diskutieren, kostet uns wertvolle Zeit.«
Clohessy schluckte. Plötzlich sah Mirko, dass er weinte.
»Ich habe Angst«, flüsterte er.
Mirko schüttelte sachte den Kopf. Dann trat er auf Clohessy zu, legte ihm den Arm um die Schulter und zog ihn zu sich heran.
»Paddy«, sagte er leise. »Alter Junge. Wir haben das hier gemeinsam durchgestanden. Wir haben ein halbes Jahr auf diesen Moment hingearbeitet. Wir sind so wenige, glaubst du denn, Jana und ich lassen ein Mitglied der Gruppe einfach so fallen?«
Clohessy schwieg. Sein Körper umfasste sich wie ein Brett.
»Natürlich wirst du noch diese Nacht untertauchen müssen. Das ist beschlossen. Du musst das Team verlassen, es ist zu gefährlich, wenn du morgen noch in Köln bist. Überprüfe das System, bring es in Ordnung. Dann holst du deinen Koffer und verlässt das Land.« Er fuhr Clohessy freundschaftlich durch die Haare. »Und zwar schnell, verstanden? Dein Geld liegt bereit. Ich bin sicher, du wirst Gruschkow lediglich ein paar Hinweise geben müssen. Ich fahre dich dann wieder hierher. Mit dem Wagen wirst du in weniger als einer Stunde über die holländische Grenze sein.«
Clohessy atmete schwer aus. Dann nickte er.
»Ich dachte, ihr bringt mich um«, sagte er leise.
Mirko zog die Brauen zusammen.
»Wie gesagt, das haben wir erwogen. Aber es wäre nicht der Stil des Hauses. Und wir brauchen dich.«
»Okay.«
»Eines nur, Paddy – es ist unabdingbar, dass du dich versteckt hältst, bis wir die Sache hinter uns gebracht haben. Falls du morgen noch in Köln bist, wenn es so weit ist, kann ich nichts mehr für dich tun. Hast du verstanden?«
»Natürlich.« Clohessys Stimme klang fester. Er wischte sich über die Nase und setzte ein zuversichtliches Grinsen auf. »Wird schon.«
»Sicher. Jetzt komm.«
Sie gingen
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