Lautlos
ergebnislosen Expeditionen in nahezu identische Gänge landete sie endlich im richtigen Vorzimmer und war gut zehn Minuten zu spät.
Sie hasste Unpünktlichkeit. Im Geiste, während sie der Sekretärin ihren Namen nannte, formulierte sie eine knappe Entschuldigung, nur um zu erfahren, dass der Redakteur in einer Sitzung befindlich und bedauerlicherweise eine weitere Viertelstunde darin verhaftet sei. Plötzlich selbst Adressatin entschuldigender Worte, wurde sie mit Kaffee und Gebäck versorgt und der Besuchercouch im leer stehenden Büro anvertraut.
Sie griff nach einem Keks und knabberte lustlos daran herum. Die Verzögerung brachte alle ihre Pläne durcheinander. Um 18.15 Uhr wurde sie in Hürth erwartet. Der Sender erwog die Installation eines zweiten literarischen Quartetts, um Triviales fürs gemeine Volk zu besprechen, und der Verlag hatte ein gewisses Interesse daran bekundet. Filmleute waren nicht sonderlich flexibel, was Terminverschiebungen anging. Jeder in der Branche war immens wichtig und entsprechend gestresst, seltsamerweise diametral entgegengesetzt zu seiner tatsächlichen Position. Es würde eine einzige Hetzerei werden nach Hürth. Zu wenig Zeit für dieses, zu wenig Atem für das nächste Gespräch. Sie hätte weiß Gott allen Grund gehabt, nervös zu sein. Und tatsächlich war sie es, aber aus völlig anderen Gründen.
Ihre Gedanken kreisten um Kuhn und was ihm passiert sein mochte. Sie machte sich Sorgen. Alles an der augenblicklichen Situation war zutiefst beunruhigend.
Und das Beunruhigendste war, dass O'Connor ihre Empfindungen vollends durcheinander brachte.
Sie überlegte, ob sie die Zeit nutzen und ihn auf seinem Handy anrufen sollte. Gut eineinhalb Stunden waren es jetzt her, dass sie ihn am Flughafen verlassen hatte, ein eher flüchtiger Kuss, eine schnelle Umarmung. Nach so viel Nähe schien die Verbindung plötzlich wie abgerissen. Sie war irritiert. Wie konnte man einander so nah sein und im nächsten Moment so fremd? Welchen Sinn ergab das? War es unmöglich, sich länger fallen zu lassen als einen verzauberten Augenblick lang in der Abgeschiedenheit eines alten Baumes?
Warum bloß musste alles immer so schwierig sein?
Sie erinnerte sich an den Text eines römischen Philosophen, über zweitausend Jahre alt, den sie einmal gelesen hatte: Wenn du plötzlich das Gefühl hast, dass Meere zwischen dir und dem anderen liegen, so kann es gleichwohl den Anfang oder das Ende einer Liebe bedeuten, du musst es nur zu deuten wissen. Wären wir uns im Klaren über unsere Gefühle und wüssten um ihre wahre Natur, ergäbe sich alles von allein. So aber übersetzen wir die Sprache unseres Herzens mit dem Kopf, und die Fehler in der Übersetzung zerstören das tiefere Verständnis der Liebe, das, was hätte werden können.
Entstand oder verging etwas zwischen ihr und O'Connor?
Im selben Moment wurde ihr klar, dass es die Angst vor der Kälte war, die die Kälte schuf. Vor O'Connor war sie allein gewesen. Würde nun alles enden, wäre sie einsam. Am Ende bliebe, alles gegeben zu haben, um feststellen zu müssen, dass es dem anderen nicht genug war. Dass nichts mehr galt. Dass sie nicht länger die schönste Frau der Welt war.
Du bist eine komplizierte Zicke, dachte sie.
Sie zog das Handy hervor und fuhr mit dem Finger unentschlossen über die Tasten. Plötzlich verspürte sie Sehnsucht nach ihm. Und zugleich nagende Schuld, nicht all ihr Denken und Empfinden auf das Schicksal des Lektors zu verwenden. Geradezu unanständig drängte sich ihr der Gedanke auf, O'Connor genau deswegen jetzt anrufen zu können, ohne befürchten zu müssen, einmal zu oft Interesse bekundet und das Gleichgewicht der Macht gefährdet zu haben, in dem keiner dem anderen Kredit einräumt. Anruf gegen Anruf, Zuwendung gegen Zuwendung. Hast du was von Kuhn gehört? Guter Trick.
Widerlich!
Also genau deswegen nicht anrufen?
Genauso blöde. Verdammtes Taktieren! Sie hasste es, zu taktieren.
»Frau Wagner!«
Der Redakteur betrat den Raum, das breite Lächeln der Entschuldigung im Gesicht, mit dem er sich selbst die Absolution erteilte, und Wagners Gedankengänge kamen zu ihrem vorläufigen Ende.
Du bist ein Feigling, dachte sie, bevor sie sich erhob und dem Redakteur die Hand schüttelte. Und dann dachte sie noch, was tut er wohl gerade, der sorglose ewige Spieler, was fühlt er, was denkt er? Oder tut er nichts von beidem?
O'CONNOR
Was fühlte er?
Kika hatte versprochen, so schnell wie möglich wieder
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