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Lautlos

Lautlos

Titel: Lautlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Es zu schaffen hieße, dem gesamten westlichen Sicherheitsapparat den Mittelfinger zu zeigen, und zwar vor laufenden Kameras. Wir würden für machtlos erklärt.«
    Sie fuhren fort mit ihrer Analyse. O'Connor füllte hin und wieder die Gläser, bis Silberman abwinkte.
    Am Ende blieben zwei Namen übrig. Bill Clinton – und Boris Nikolajewitsch Jelzin.
    Jelzin. Zar Boris. Warum nicht?
    Aber Jelzin kam erst in drei Tagen. Und er hatte seine mächtigsten Feinde nicht in der Welt, sondern im eigenen Land.
    »Sie wollen Clinton«, konstatierte Silberman.
    »Ja. Aber wer will Clinton?«, sagte O'Connor. »Wer sind sie?«
    Silberman spielte mit seinem Glas und schob es durch die Gegend. »Ich würde sagen, es hängt davon ab, auf welchen Anlass sich das Attentat bezieht. Wenn es rückwirkend mit dem Weltwirtschaftsgipfel zu tun hat, kommt praktisch jede radikale Gruppierung in Frage, die ›Dritte Welt‹ auf ihrer Fahne stehen hat.«
    »Die ewige Betroffenenliga? Kaum vorstellbar. Ich bin da wenig bewandert, Aaron. Aber dass ein Haufen Menschenrechtler diesen Sicherheitsgürtel durchbrechen könnte, ist noch nicht mal gute Science-Fiction. Sie haben selbst gesagt, es ist so gut wie unmöglich, Clinton hier zu töten.«
    »Wohl wahr.« Silberman überlegte. »Außerdem, was immer sie vorhaben, es muss eine Stange Geld gekostet haben.«
    »Und wer hat das meiste Geld?«
    »Die Staaten. Ich meine, Staaten grundsätzlich. Regierungen. Stimmt schon. Eine Aktion wie diese riecht förmlich nach Nationalismus. Man entmachtet nicht nur Amerika, sondern das Gastgeberland Deutschland gleich mit. Und alle anderen, die an dem Treffen teilnehmen.«
    »So. Und wer hasst die Amerikaner im Augenblick am meisten?«
    »Die Frage muss heißen, wer hasst die Nato. Und für wen wäre Clintons Kopf die größte Trophäe aller Zeiten?«
    »Serbien. Milošević.«
    »Er würde zum Volkshelden.«
    »Ja.«
    »Sie würden ihn mythisch verklären. Und Milošević ist durchaus sein eigener Mythos, er hat sich erschaffen als Reinkarnation des unseligen Fürsten Lazar, um die Schlacht auf dem Amselfeld diesmal zu gewinnen.« Silberman hob die Brauen und sah O'Connor an. »Ist das nicht bemerkenswert? Alle großen Faschisten hatten diesen eigenartigen Hang zum Mythischen. Ich denke, wenn wir die Staatsmänner der Welt in Hinsicht auf ihr Mythenverständnis ins Auge fassen, sollten wir eigentlich so etwas wie eine Hitler-Früherkennung entwickeln.«
    »Nur dass …« O'Connor zögerte. »Die Theorie ist schlüssig. Sollte es uns stören, dass Paddy Ire ist?«
    Silberman schüttelte den Kopf.
    »Der internationale Terrorismus ist ein Arbeitsmarkt. Paddy ist nicht der Kopf. Der Kopf verrät uns, mit wem wir es zu tun haben. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Liam.«
    Silberman begab sich auf die Toilette und ließ O'Connor mit seinen Gedanken allein zurück.
    O'Connor trank weiter Portwein und fragte sich, ob sie im Begriff waren, durchzudrehen. Nachdem sie jetzt eine konkrete Theorie hatten, kam ihm das Ganze nur umso absurder und alberner vor. Er war Physiker. Sein Fachgebiet waren Photonen, seine Arbeitsstätte Laboratorien. Er schrieb Romane und erfand Geschichten. Abenteuer vollzogen sich auf gesellschaftlichem Parkett. Hier und da jemanden hochnehmen, eine wohlgezielte Beleidigung coram publico mit der Aussicht auf eine standesgemäße Prügelei – O'Connor prügelte sich nie mit Männern unterhalb seines Standes! – und grundsätzlich ein bisschen auf Messers Schneide leben. Der Rest war Arbeit, Wohlstand und Genuss. Dazwischen hatte O'Connor genug damit zu tun, sich selbst zu erfinden. Die schroffe Wirklichkeit, in der er sich plötzlich wieder fand, verwirrte ihn. Zwei erwachsene Männer wurden sich darüber einig, dass am selben Abend der Präsident der Vereinigten Staaten würde sterben müssen.
    Benahmen sie sich am Ende wie die Kinder?
    Sie mussten zu Lavallier, so viel stand fest. O'Connor schätzte, dass der Kommissar in seinen Ermittlungen noch nicht wesentlich vorangekommen war. Lavallier und Bär wussten, dass O'Connor ins Holiday Inn geflohen war. Bestimmt hätten sie ihn aufgesucht, wenn etwas Wichtiges geschehen wäre. Und sei es, um ihn ein weiteres Mal mit dämlichen Fragen zu löchern.
    Wie er es hasste!
    Plötzlich und unerwartet stellte er fest, dass er sich nach Kika sehnte.
WAGNER
    Der WDR erwies sich als unübersichtlich. Wagner schaffte es dreimal, sich zu verlaufen. Nach mehrmaligem Auf und Ab über die Etagen und

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