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Lautlos

Lautlos

Titel: Lautlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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die Nikon. Sie drehte weiter an dem Ring und sah den Lektor im Sichtfenster erscheinen.
    Sie zoomte. Der Lektor wurde größer, bis seine Schläfe den Ausschnitt des Suchers vollständig einnahm.
    Jana setzte die Kamera ab. Versuchsweise drückte sie gegen den kleinen Hebel, der das Fach für die Batterien öffnete. Beim Standardmodell ließ er sich nach rechts verschieben, und die Batterienklappe öffnete sich. Die umgebaute Version hielt eine Variante bereit. Jana bewegt den Hebel leicht nach links. Aus dem Boden der Kamera schob sich ein dünnes Plättchen von der Größe einer halben Briefmarke und fiel zu Boden.
    »Alles wie gehabt«, sagte Gruschkow. »Flutscht raus wie ein Neugeborenes.«
    Das Plättchen war ein Mikrochip auf einem Siliziumträger. Einmal im Innern der Nikon installiert, blockierte er die üblichen Funktionen und verwandelte sie stattdessen in eine Steuereinheit, die mit einer Kamera in etwa so viel zu tun hatte wie ein Präzisionsgewehr mit einer Kinderschleuder. Mit Hilfe des Chips konnte die Nikon ein anderswo installiertes bewegliches Objektiv wie das in der Halle fernsteuern. Und mehr noch. Was dieses Objektiv sah, wo auch immer es sich befand, erschien im Sucher. Hatte die Fernsteuerung das Ziel fokussiert, musste Jana nur noch den Auslöser drücken.
    Dann, unmittelbar nach dem Attentat, würde sie den Batteriehebel nach links drücken, den Chip herausfallen lassen und zertreten. Danach war die Nikon wieder eine gewöhnliche Kamera. Keine Überprüfung würde etwas anderes ergeben.
    »Es ist eine Meisterleistung«, sagte Jana anerkennend.
    Gruschkow zuckte die Achseln. Er strich sich über die Glatze und versuchte, einen möglichst gleichgültigen Eindruck zu machen, aber es war offensichtlich, dass er vor Stolz fast platzte.
    »Schießen Sie ein schönes Foto«, sagte er.
HOLIDAY INN
    O'Connor stützte den Kopf in die Handfläche und strich der Reihe nach Namen durch, die Silberman auf ein Blatt Papier geschrieben hatte.
    Systematisch gingen sie noch einmal alle Teilnehmer der G-8-Runde durch. Schröder würde den Flughafen gar nicht erst betreten. Jacques Chirac war grundsätzlich gefährdet, stand aber eher auf der Abschussliste radikaler Moslems. Auch wenn die Abu Nidals dieser Welt zu allen Zeiten in Lauerstellung lagen, war ein moslemischer Anschlag zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sehr wahrscheinlich. Das aktuelle Zeitgeschehen kreiste um den Balkan.
    Vor diesem Hintergrund war Tony Blair nach Clinton der zweite extrem gefährdete Staatsgast. Mehr als alle anderen hatte er in dem Konflikt die harte Linie vertreten. Wäre es nach ihm gegangen, hätte es kein Tauziehen um den Bodenkrieg gegeben. Der Hass Serbiens und auch der Unmut Russlands trafen Großbritannien besonders hart.
    D'Alema umzubringen, konnte allenfalls die Neomarxisten interessieren. Über Obuchi und Chretien ließen sich keine Aussagen treffen außer der, dass es unsinnig war, einen kanadischen oder japanischen Staatsmann symbolisch in Deutschland zu ermorden.
    »Wenn ein solcher Anschlag stattfindet«, erklärte Silberman, der mittlerweile auf O'Connors Portweinmarke umgestiegen war, »ist er streng symbolisch zu werten. Ansonsten gäbe es keinen plausiblen Grund, ihn unter derart schwierigen Vorzeichen durchzuführen. Clinton zum Beispiel ist grundsätzlich gut geschützt, dennoch könnten sie ihn beim Joggen hinterm White House ungleich problemloser wegpusten als hier.«
    »Also geht es um die Demonstration von Macht.«
    »Natürlich. Terrorismus ist immer da, wo Macht und Gewalt sich treffen, und sie treffen sich vor allem in den Medien. Macht erwächst aus Publicity und Anerkennung. Wenn Sie herausfinden wollen, was ein professionelles Terrorkommando plant und wie sie es umsetzen werden, müssen Sie einfach nur an die Hauptsendezeiten denken. Terroristen sind scharf auf Medienpräsenz. Was da am besten ankommt, werden sie tun, und die Medien sind allzu bereit, dem entgegenzukommen. 1975, die Besetzung des OPEC-Hauptquartiers in Wien und die Entführung der Ölminister, wissen Sie noch? Die Terroristen flohen auf höchst dramatische Weise mit ihren Geiseln aus dem Gebäude – aber erst, als sie sahen, dass auch genug Fernsehteams beisammen waren.«
    »Frei nach dem Motto, schieß jetzt nicht, Abdul, es ist noch nicht Hauptsendezeit?«
    »Genau. Das muss man wissen, wenn man verstehen will, warum sich solche Kommandos schwierige Situationen aussuchen. Clinton heute Abend zu töten, ist so gut wie unmöglich.

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