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Lautlos

Lautlos

Titel: Lautlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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Reise.«
    Unfähig zu schreien, fiel O'Connor in seinen eigenen Abgrund.
AIR FORCE ONE
    »Honk!«
    Wenn Bill Clinton sich schnäuzte, tat er es geräuschvoll und ausgiebig. Man sagte dem Präsidenten nach, sein Schnäuzen klinge wie der Schrei einer Wildgans. Der Vergleich stammte von Robert Reich, Clintons Arbeitsminister der ersten vier Jahre, der es wissen musste. Seine Kenntnis der Gewohnheiten Clintons hatte noch in Oxford eingesetzt, wo sie beide Quartier bezogen hatten in den alten Innenhöfen des University College, um im Zuge eines Jurastudiums erwachsen zu werden. Etwas, das Clinton nie vollständig gelungen war. Ein hervorragender Jurist war er geworden. Erwachsen eher nicht.
    »Honk!«
    Norman Guterson, Clintons Sicherheitschef, saß dem Präsidenten gegenüber, angeschnallt in einem der komfortablen weißen Sessel, die ebenso gut in jedem geschmackvoll eingerichteten Penthouse Platz gefunden hätten. Vor seinem geistigen Auge zog ein Strich Gänse vorbei, hoch am Himmel, die allesamt mit den Flügeln schlugen und »Honk!« schrien. Es war Reichs Schuld. Seit Erscheinen des Buches, das der ehemalige Arbeitsminister über seine Rolle in der Clinton-Administration geschrieben hatte, konnte Guterson nie wieder in aller Unschuld ein Niesen oder Schnäuzen seines Präsidenten hören.
    Clinton knüllte das Papiertaschentuch zusammen und zog noch einmal die Nase hoch.
    »Verdammte Pollen«, sagte er.
    »Das ist die trockene Luft im Flugzeug«, sagte Guterson.
    Clinton sah ihn an und kicherte.
    »Blödsinn, Norman. Das ist Washington. Es hängt mir in den Kleidern.«
    »Köln ist besser«, versicherte Guterson.
    Clinton litt unter einer Reihe von Allergien. Er reagierte so ziemlich auf alles, was blühte, mit tränenden Augen und laufender Nase. Die Aussicht, zwei Perioden lang das Land zu regieren, hatte ihm keine Angst gemacht, wohl aber, Washington durchzustehen, die Pollenhauptstadt der Welt.
    »Köln liegt in einer Senke, nicht wahr?«, sagte der Präsident. »Alles staut sich darin. Die Luft, der Regen, die Pollen. Wahrscheinlich werde ich aus dem Niesen nicht mehr rauskommen.«
    »Wer sagt das?«
    »Morris.«
    Guterson schüttelte den Kopf. Dick Morris war ein Fall für sich. Es hieß, er habe '96 für Clinton die zweite Wahl gewonnen, indem er die Politik der hehren Absichten einer auf Umfragen und Marktforschungsstudien basierenden Strategie opferte. Am Ende der ersten Amtsperiode Clintons waren die Werte des Präsidenten in der Öffentlichkeit auf ein besorgniserregendes Niveau gesunken, trotz wirtschaftlicher Erfolge. Weiterhin hatte Clinton versucht, das zu tun, was ihm richtig und gerecht erschien. Morris hingegen hatte auf den so genannten Swing abgezielt, die Wechselwähler, ein unentschlossenes Potential, das die dringend benötigte Mehrheit darstellte. Mitte der Neunziger startete er darum eine beispiellose Marktforschung, um zu erspüren, was der Swing erwartete. Was im Swing gut ankam, empfahl er dem Präsidenten. Morris war es auch gewesen, der Vokabeln wie »Problem« und »Krise« gänzlich aus dem Wahlkampf strich. Clinton sollte nicht Probleme ansprechen, sondern gnadenlosen Optimismus ausstrahlen. Das Konzept war aufgegangen, und Morris und die Seinen feierten sich als Comeback-Macher des Präsidenten, während die sozial Schwachen weiter im Abseits verschwanden. Ihre Sorgen waren nicht populär, Clintons Kritiker, vor allem auch in den eigenen Reihen, vermerkten seitdem, der Präsident habe sich an die Marktforschung verkauft. Das mochte übertrieben sein. Unrecht hatten sie dennoch nicht in ihrer Beurteilung einer Politik, die weniger auf tatsächliche Missstände als vielmehr auf die verzerrte Perspektive eines unentschlossenen Mittelstands abzielte – frei nach dem Motto, löse nicht die Probleme des Landes, sondern das, was der Mittelstand als Problem empfindet. Am Ende der ersten Periode schienen nur noch Morris und seine Marktforschung die politische Entscheidungsfindung im Weißen Haus zu prägen. Hatte Clinton früher diverse Einschätzungen erhalten, was für die Vereinigten Staaten gut und richtig sei, wurden damals noch Optionen gegeneinander abgewogen und der Veränderungswille der frühen Jahre beschworen, schaute man jetzt in Umfragelisten.
    Guterson wusste, dass es sich um kein rein amerikanisches Phänomen mehr handelte. Viele Politiker verließen sich mittlerweile auf Consultants wie Morris, die bei ihnen noch die letzten Reste von Prinzipien exorzierten und sie einzig

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