Lautlos
Schritte.«
Sie schlenderten am VIP-Zelt entlang in Richtung Pressebereich. Wagner fühlte die Blicke der Polizisten auf sich ruhen, die von der Absperrung zu ihnen herübersahen.
»Sie machen sich Vorwürfe wegen Kuhn«, sagte Silberman. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.
»Ja.«
»Das müssen Sie nicht. Sie haben ihn zu nichts gezwungen.«
»Wir hätten zur Polizei gehen sollen.«
»Was Sie hätten tun sollen und getan haben, betrifft Ihren Umgang mit der Wirklichkeit, was Kuhn getan hat, seinen. Ich bin sehr betroffen über sein Verschwinden. Aber Sie sind nicht verantwortlich.«
»Wären wir zur Polizei gegangen, hätten wir niemanden in Gefahr gebracht.«
»Kika.« Er blieb stehen und sah sie an. Sie mochte sein rundes, freundliches Gesicht mit den kleinen Augen. »Ich verstehe Sie sehr gut. Was mich betrifft, habe ich andere Erfahrungen gemacht als Sie, ich war Korrespondent in Bosnien und Kuwait. Ich habe die Bilder geliefert, die Sie aus dem Fernsehen kennen. Die einen haben mit Waffen draufgehalten, wir mit Kameras. Natürlich haben wir uns um Objektivität bemüht, aber schon die Wissenschaft lehrt uns, dass wir nichts beobachten können, ohne es allein durch die Tatsache der Beobachtung zu verändern. Die Vorgänge passen sich an. Ich war ganz vorne mit dabei, ich habe Elend und Gewalt erlebt, und wir taten nichts weiter, als darüber zu berichten. Trotzdem habe ich mich oft genug gefragt, ob wir die Wirklichkeit mit unseren Kameras nicht schon veränderten. Ob das, was ich mit eigenen Augen sah, überhaupt im umfassenden Sinne als Wirklichkeit verstanden werden konnte. Jeder macht sich seinen Ausschnitt. Auch die Menschen, die wir filmten, wussten das und versuchten, auf ganz bestimmte Weise darin zu erscheinen. Hätten sie ihren Krieg auch so geführt, wenn sie nicht gewusst hätten, dass Kameras auf sie gerichtet sind, dass die Bilder um die Welt gehen werden? Wie viele Kriege sind mittlerweile nicht über Bomben, sondern über die Medien entschieden worden, wie viel tragen wir dazu bei, ohne es zu wollen und zu wissen? Wir mussten darüber befinden, welche Bilder wir senden, aber handelten wir richtig? Sie haben vorhin gesagt, wir können mit der blanken Realität nicht umgehen, das ist wahr. Nicht mal ich konnte das. – Nun, am Ende dieses Krieges im Kosovo, den wir alle bis vor wenigen Wochen geführt haben, was wissen wir denn da? Was weiß der durchschnittliche Amerikaner, der Deutsche, der Russe über Kosovo-Albaner, was über Serben? Beide sind in letzter Konsequenz Platzhalter in einer abstrakt geführten Diskussion über Menschen- und Völkerrechte. Jedermann fühlt sich bemüßigt, über die Führbarkeit von Kriegen und die Verteidigung von Werten zu diskutieren, aber hat sich auch nur einer derer, die mahnend den Zeigefinger erheben, wirklich mit der Geschichte des serbischen und des kosovarischen Volkes beschäftigt? Was haben wir, was haben die Berichterstatter erreicht? Worüber reden wir? Milošević ist gefährlich und amoralisch, aber wenn meine Arbeit dazu führt, dass wir die Serben verteufeln, hat mein Ausschnitt der Wirklichkeit die Wirklichkeit verbogen. Und da hadern Sie mit sich, ob es richtig war, Detektiv zu spielen! Sie waren an keiner Front, Kika, aber Sie waren dennoch bereit, einer ungeheuerlichen Vorstellung Raum zu geben, nämlich dass jemand an diesem Flughafen ein Attentat verüben könnte. Wie wollen Sie da richtig handeln? Wie viel Normalität haben Sie im Schockverfahren über Bord werfen müssen? Sie haben keine Übung in diesen Dingen, es ist bemerkenswert, dass Sie überhaupt gehandelt haben, Sie und Liam, und wie es aussieht, mit Erfolg. Wäre Clinton gestorben, hätte das der Welt einen schrecklichen Schlag versetzt. Willentlich haben Sie dazu beigetragen, ein Verbrechen zu verhindern, und wenn im Zuge dessen ein anderes geschehen ist, tragen Sie keine Schuld daran. Wollen Sie das bitte begreifen?«
Wagner sah ihn an. Dann beugte sie sich zu ihm hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Wange.
»Also sollten wir darangehen, der Wahrheit auf die Spur zu kommen«, sagte sie.
»Ich fürchte, das ist ein zu hohes Ziel«, lächelte Silberman. »Eigentlich glaube ich, dass die Welt die Wahrheit gar nicht wissen will.«
»Stimmt«, sagte O'Connor von hinten.
Er trat zu ihnen und rümpfte die Nase. »Ich stinke wie ein Schwein! Schweiß, Blut, alles. Das kann die Welt nicht wissen wollen. Was ist, Kika, fahren wir duschen?«
VIP-ZELT
Lex kam
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