Lautlos
auch die der Erkenntnis, was ihm widerfahren war.
Wagner versuchte, Mitleid mit ihm zu empfinden. Aber der Fundus ihrer Emotionen war den Bedarfsanforderungen entweder nicht gewachsen oder brachte sie schlicht durcheinander. Hätte man ihr die Situation a priori geschildert, wäre sie zu der unabdingbaren Überzeugung gelangt, keine Minute davon durchstehen zu können – jetzt ließ sie die schreckliche Verwundung des Mannes merkwürdig kalt. Eine Ahnung dämmerte in ihr empor, wie Soldaten empfinden mochten, die längere Zeit Bildern des Grauens und des Elends ausgeliefert waren. Natürliche Schutzmechanismen waren gut, solange sie sich nicht zu unüberwindbaren Traumata auftürmten, die der Schrecken ebenso wenig überwinden konnte wie die Seele.
Sie kniete neben Kuhn und strich ihm beruhigend übers Haar. Der Lektor schien in Katatonie verfallen zu sein. Während sich Silbermans Verletzung als oberflächlicher Streifschuss herausgestellt hatte, ging es Kuhn zusehends schlechter. Er schnappte nach Luft und hielt die Augen halb geschlossen, so dass nur das Weiße zum Vorschein kam. Wagner sah hoch zu O'Connor.
»Er muss in ein Krankenhaus«, sagte sie.
O'Connor schüttelte grimmig den Kopf. »Erst mal muss er überhaupt hier raus«, sagte er mit einem Blick auf die Terroristin. »Und das geht wohl nicht so einfach, habe ich Recht?«
Die Frau starrte an ihm vorbei auf den verwundeten Angreifer.
»Das wird er uns verraten«, sagte sie. Sie trat dicht an den Mann heran und drückte den Pistolenlauf gegen seine Schläfe. Er zuckte zurück. Seine Lippen bewegten sich.
»Bitte nicht.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Keuchen. »Erschießen Sie mich nicht, bitte.«
Die Frau reagierte, als sei sie geohrfeigt worden. Sie prallte zurück und sah ihn ungläubig an.
»Du bist Amerikaner«, rief sie.
Er schwieg, aber sein Gesicht verzerrte sich nur noch mehr.
»Du bist Amerikaner«, wiederholte sie leise und eindringlich. In plötzlicher Wut packte sie seine Kehle und drückte ihn gegen die Wand. Er stöhnte auf und versuchte, sie abzuwehren. Sie schien vor Zorn förmlich in Flammen zu stehen. Die Waffe in ihrer Hand fuhr hoch über ihren Kopf, als wolle sie ihm damit den Schädel einschlagen. Für einen Moment ließ sie sich hinreißen, achtete nicht mehr auf die anderen, verlor die Kontrolle.
O'Connor sprang sie an.
Die Terroristin stolperte rückwärts, und er setzte nach, holte aus und schlug ihr ins Gesicht. Sie taumelte, fiel über Kuhns Füße und prallte hart auf den Rücken.
»Liam!«, schrie Wagner.
Mit einem Satz war sie auf den Beinen und stürzte zu ihm. Er machte Anstalten, sich auf die am Boden liegende Terroristin zu werfen. Wagner fiel ihm in den Arm und riss ihn zurück.
»Sie tötet dich!«, flehte sie. »Hör auf! Du hast keine Chance, sie erschießt dich, sie erschießt uns alle.«
O'Connor zitterte am ganzen Leib. Schwer atmend stand er über der Frau, die ihre Waffe auf ihn gerichtet hielt. Die Mullbinden um die geballte Faust, mit der er sie getroffen hatte, verfärbten sich an zwei Stellen rot.
»Na los«, keuchte er. »Mach schon. Warum legst du uns nicht einfach alle um, du Miststück? Wäre doch viel einfacher. Bumm, weg!«
»Ich warne Sie«, zischte die Terroristin.
»Du warnst mich? Wovor? Davor, dass ich sterben könnte? Davor muss mich keiner warnen, das weiß ich schon lange! Das Problem ist, dass du sterben wirst!«
»Zurück mit Ihnen.«
»Wenn du da rausgehst«, schrie O'Connor, »wirst du sterben! Ist es nicht so? Du bist mit deinem Latein am Ende, du wirst abkratzen!«
»Ich sagte, Sie sollen zurück an die Wand gehen!« Sie robbte über den Boden nach hinten, die Pistole starr von sich gestreckt. Dann kam sie mit plötzlichem Schwung auf die Beine. Ein Zucken ihrer Schulterblätter hatte genügt, um sie wieder in die Senkrechte zu katapultieren.
»Jana«, flüsterte Kuhn.
Alle Köpfe fuhren zu ihm herum.
Der Lektor hatte sich auf den Ellbogen gestützt. Sein angeketteter Arm stand in unnatürlichem Winkel ab. Er wirkte wie zerbrochen, aber sein Blick war klar. Die wässrigen Augen ruhten gelassen auf der Terroristin. Ohne ihre Körperspannung zu verlieren oder die Position zu verändern, erwiderte sie den Blick.
»Ich habe dir gesagt, dass sie den Preis für dich ausgehandelt haben.« Er hustete und spuckte aus. In dem Speichel, der vor ihn hinfiel, waren Blutfäden zu sehen. »Du wolltest nicht hören. Es ist immer dasselbe mit euch Nationalisten, Patrioten,
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