Lautlos
einem Programm mit begrenzter Speicherkapazität ein Fenster nach dem anderen, rufe Dateien über Dateien auf, bis auf dem Bildschirm der wohl vertraute graue Kasten erschien: Es ist zu wenig Speicherplatz vorhanden, um neue Fenster zu öffnen. Schließen Sie einige Fenster und versuchen Sie es erneut.
Es wurde dringend Zeit, einige Fenster zu schließen. Sie konnte nicht ihr Leben lang immer mehr Persönlichkeiten und Identitäten übereinander lagern. Ricardo hatte Recht. Jana war am Ende angelangt. Zwischen Professionalismus und Patriotismus hatte sich ihr innerer Cursor sozusagen aufgehängt.
Ein letzter großer Geniestreich, der alle Persönlichkeiten wieder miteinander vereinte – und dann aussteigen. Jemand anderer werden.
Dieses Haus in den Weinbergen des Piemont würde verschwinden.
Wenn schon. Es war schön, aber zu ersetzen. Sie hätte dreißig Millionen Dollar zur Verfügung!
Sie könnte endlich aufhören, Sonja Cośic hinterherzulaufen.
»Silvio«, sagte sie.
»Ich höre.«
»Setzen Sie sich mit Mirko in Verbindung. Sagen Sie ihm, ich akzeptiere den Auftrag. Er soll mich mit den nötigen Einzelheiten versorgen und eine Million auf das bekannte Konto überweisen.«
Silvio lächelte.
»Wird gemacht«, sagte er. »Signora Firidolfi.«
1999.15. JUNI. KOELN. AIRPORT
Hätte O'Connor nicht nachweislich aus Dublin gestammt, hätte man ihn dorthin erfinden müssen – zumindest, was Wagners Verständnis der irischen Autorenszene betraf. Für sie war O'Connor weniger Physiker als Schriftsteller, eine Sichtweise, deren Subjektivität sie sich durchaus bewusst und die letztlich unzutreffend war. Zu allem Überfluss war O'Connor – obschon in Dublin geboren und dort aufgewachsen – nicht mal ein hundertprozentiger Ire. Sein Vater war Dubliner, seine Mutter stammte aus Hannover. Diesem Umstand verdankte es O'Connor, zweisprachig aufgewachsen zu sein und das Deutsche ebenso fließend zu beherrschen wie das Englische. Wollte er von beiden nicht verstanden werden, zog er sich auf die angestammte Sprache der Iren zurück und sprach gälisch, um seine Verbundenheit zu den keltischen Wurzeln seines Volkes zu bekunden. Ob dahinter echtes Interesse oder akademische Selbstgefälligkeit steckte, jedenfalls hatte er die archaische Sprache gelernt und oft genug zur Anwendung gebracht – im Westen und Nordwesten, wo er mitunter tageweise verschwand und nur alte Männer mit Stoppelbärten und Fischgeruch in den Kleidern zu sagen wussten, wo er steckte.
Die Wissenschaft hatte O'Connors Ruf geprägt, und als Wissenschaftler war er weder irisch noch überhaupt in irgendeiner Weise typisch. Die meisten Wissenschaftler, die Wagner kennen gelernt hatte, taten sich mit modischen Akzenten schwer. Sie balancierten Atome auf nanometerspitzen Nadeln, schienen aber faustgroße Beulen und Knitterfalten in Jackett und Hose nicht wahrzunehmen. Jüngere Generationen trugen Jeans und T-Shirt und entsprachen – wie die deutschen Forscher Gerd Binnig oder Horst Störmer – wenigstens ansatzweise dem Bild des akademischen Abenteurers. Eine wissenschaftliche Theorie wurde, wenn sie in sich stimmig war, in der Szene gern als elegant bezeichnet, der dazugehörige Theoretiker war es in den seltensten Fällen. O'Connor im stahlgrauen Armani-Anzug mit abgestimmter Krawatte und gleichfarbigem Hemd, braun gebrannt und perfekt frisiert, widersetzte sich dem einen Klischee in gleicher Weise, wie er das andere provozierte. Was ihm, wie Wagner zugeben musste, beides auf recht eindrucksvolle Weise gelang.
O'Connor, der Physiker, gefiel sich als Aushängeschild des Dublin Trinity, wo er sich seine Sporen verdient und das ihn gefördert hatte. Der Schriftsteller O'Connor war hingegen bekannt dafür, sich mit seiner Heimatstadt anzulegen, wo es nur ging. Damit befand er sich in bester Gesellschaft, was möglicherweise die Triebfeder seiner fortgesetzten Schmähreden darstellte. Jonathan Swift hatte Dublin erbärmlich genannt, W. B. Yeats bezeichnete die Metropole als blind und ignorant, während George Bernard Shaw zumindest von einer gewissen, für Dublin bezeichnenden Verhöhnung und Herabwürdigung sprach. James Joyce bekundete oft genug, er habe die Stadt der Unzufriedenheit, der Boshaftigkeit und des Scheiterns satt bis obenhin und sehne sich danach, weit weg zu sein. Dennoch konnten sie alle nicht von Dublin lassen. Jeder von ihnen vertrat auf seine Art die Paradoxie der Stadt an der Liffey, das Triste und Glitzernde, wie Joyce angemerkt
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