Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lautlos

Lautlos

Titel: Lautlos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
Vom Netzwerk:
hatte, den heruntergekommenen Wirrwarr, ohne den er dennoch nicht hätte leben und arbeiten können. Worauf immer die Hassliebe gründete, die Irlands Literaten ihrer Stadt entgegengebracht hatten, O'Connor hatte sie aufgenommen und liebevoll kultiviert.
    Wagner zweifelte an der Ernsthaftigkeit seiner Verstimmung über den Trümmerhaufen, wie er Dublin nannte. Als wäre ihm nicht sonnenklar gewesen, dass sich hier im zwanzigsten Jahrhundert eine literarische Strömung ersten Ranges herausgebildet hatte, deren Vertreter allesamt ihren Habitus als Dickschädel pflegten, tranken und diskutierten und eher nebenbei zu ihren Meisterwerken fanden. Samuel Beckett, Brendan Behan und der einzigartige Flann O'Brien führten nicht nur mit sportlichem Ehrgeiz Prozesse gegeneinander, sondern waren auch Stammgäste in den Pubs, was ihnen den mythisch überhöhten Ruf begnadeter Trinker einbrachte. Ob O'Connor deshalb soff wie ein Loch, blieb dahingestellt; ebenso, ob überhaupt einer der als versoffen gehandelten irischen Literaten wirklich so viel getrunken hatte. Fest stand, dass kaum ein anderes Volk, insbesondere dessen intellektuelle Kaste, seine eigenen Klischees dermaßen auf die Spitze getrieben hatte wie die Iren. Nicht, weil sie es so wollten, sondern weil sie so waren. Tatsächlich schien Irland das einzige Land der Welt zu sein, in dem sich jedes Klischee bis zur hundertprozentigen Übernahme durch die Realität verwirklichte. So war es nur natürlich, dass O'Connor nicht einfach betrunken, sondern betrunken von irischem Whisky in Wagners Leben getreten war. Und dass er, ganz in der Tradition seiner schreibenden Vorgänger, aufrecht gehend durch sein Delirium schritt, mit einer gewissen Erhabenheit und in völliger Übereinkunft mit sich selbst.
    Sie verließen die Lounge und durchquerten den ersten Stock des Flughafens. KölnBonn war eine Baustelle. An der Nordostflanke entstand eine neue Welt aus Stahl und Glas. Zu Beginn des neuen Jahrtausends würden Reisende in einem achtzehn Meter unter der Erde angelegten Bahnhof per ICE eintreffen und nach weniger als einhundert Schritten den Check-in passiert haben, um von luxuriösen Sesseln auf das Rollfeld zu blicken. Das Projekt folgte den Erfordernissen. Von der Gemütlichkeit alter Tage war nicht mehr viel zu spüren. Die Passagiere bevölkerten das viel zu kleine alte Terminal wie einen Ameisenbau. Noch war der neue Super-Airport nicht mehr als ein hochtechnisiertes Tohuwabohu, dem seit Anfang des Monats die weltpolitische Elite beinahe täglich die Ehre erwies.
    Sie nahmen die Rolltreppe nach unten. O'Connor hatte seit Verlassen der Lounge nichts mehr gesagt.
    »Wie war denn der Flug?«, fragte Kuhn endlich und drehte sich um, weil Wagner und der Doktor eine Stufe über ihm standen, während sie nach unten glitten. O'Connor hob die Brauen. Er streckte waagerecht seine linke Hand aus, spreizte Daumen und Zeigefinger ab und begann, sie hin- und her zu bewegen, als fliege sie Kurven.
    »Bssssssssss«, sagte er.
    »Ah.« Kuhn nickte. »Mhm.«
    »Sagen Sie mal, Doktor«, fragte Wagner maliziös, »haben Sie sich eigentlich gut amüsiert in Hamburg? Nachtleben und so?«
    Kuhns Augen weiteten sich vor Bestürzung.
    »Ich glaube kaum, dass Liam uns darüber Rechenschaft schuldig ist, Kika«, zischte er. »Die ständige Fliegerei ist ausgesprochen anstrengend, wer ist danach schon wirklich frisch! Ich hab zum Beispiel Flugangst. Ich trinke ganz gern einen, wenn der Vogel hochgeht. Ist daran irgendwas auszusetzen?«
    »Kika?«, echote O'Connor.
    Wagner lächelte. »Mein Vorname.«
    »Sie ist …«, begann Kuhn.
    »Warum heißen Sie Kika, du lieber Himmel?«, rief O'Connor mit todernster Miene. »In Deutschland heißen die Frauen Heidi oder Gaby. Sie heißen Gaby. Merken Sie sich das.«
    »Gehen«, sagte Wagner. »Jetzt.«
    O'Connor warf die Stirn in Falten. Im nächsten Moment stolperte er, fing sich und taumelte über das Ende der Rolltreppe hinaus zwischen die Leute, die das Erdgeschoss bevölkerten. Er fluchte auf Gälisch. Kuhn sprang hinzu und ergriff ihn am Arm. O'Connor straffte sich, schüttelte den Lektor mit ärgerlichem Grunzen ab und drehte sich nach allen Seiten um, bis er Wagner erblickte.
    »Sie hätten mir ruhig sagen können, dass wir in einen anderen Quadranten kommen«, knurrte er. »Pfui, Uhura! Kirk an Brücke, beamen Sie das Weibsstück in die nächste Singularität.«
    Wagner sah zu Kuhn herüber, der mit gespreizten Fingern und hochgezogenen Schultern

Weitere Kostenlose Bücher