Lautlos
ehrlich, Kika. Im Grunde sollte man überhaupt keine Krawatte tragen, wenn man nicht will. Verdammter Sozialzwang. Alles nur westliche Arroganz. Wussten Sie, dass indische Politiker …«
»Stimmt. Sie sollten wirklich keine tragen. Das Problem ist nur, dass Sie ohne auch nicht besser aussehen. So. Bitte schön.«
Kuhn schüttelte sie brummend ab und verstaute den Schlips zwischen den Revers seines Jacketts. Wagner fragte sich, wie er es immer wieder schaffte, dermaßen abgerissen auszusehen. Der Lektor war keineswegs so alternativ, wie er sich gebärdete. Er trug keine billigen Sachen. Er trug die teuren nur so, dass sie aussahen, als kämen sie aus der Altkleidersammlung. Hinzu addierte sich eine kaum zu überbietende Delikatesse in der Zusammenstellung von Farben. Neben O'Connor hatte er ausgesehen wie ein tragischer Irrtum. Im Kreis der Abendgesellschaft, die Kuhn den folgenden Abend im Restaurant des Maritim zu verdanken hatte, würde er auch nicht besser dasitzen.
Es war die einzige Reservierung gewesen, die sie ihm überlassen hatte. Prompt hatte er es vermasselt. Wagner hatte nichts gegen das Maritim. Sie hatte nur grundsätzlich etwas gegen Restaurants in Hotels, weil sie in den allermeisten Fällen Durchschnitt offerierten. Und Durchschnitt war das Letzte, was sie O'Connor anzubieten gedachte. Kuhn hatte den schönen Ausblick über den Rhein in die Waagschale geworfen. Schließlich hatte Wagner nachgegeben und nicht länger darauf insistiert, die Reservierung zu ändern. Sie beschloss, Kuhn schulde ihr für das Entgegenkommen irgendwann einen größeren Gefallen, und sie war entschlossen, ihn einzufordern, wenn es so weit war.
»Es wird schon schmecken«, sagte der Lektor väterlich. »Ich weiß ja schließlich auch, was sich gehört.«
»Mhm.«
»Große Portionen, Kika. Damit Sie endlich mal was auf die Rippen kriegen! He, da fällt mir ein, wissen Sie eigentlich, warum so viele Schauspielerinnen magersüchtig sind?«
»Nein«, seufzte Wagner.
»Ganz einfach. Klappern gehört zum Handwerk! Haha. Gut, was? Wie viel wiegen Sie überhaupt?«
»Sie kriegen gleich auch was auf die Rippen.«
»Entschuldigung, ich wollte nur …«
»Es geht Sie nichts an, wie viel ich wiege, hören Sie?«
»Bei Ihrer Größe …«
»Es geht nicht mal meine Waage was an!«
Kuhn zuckte die Achseln und suchte die Hotelhalle mit Blicken ab. Allmählich wurde es Zeit, dass sich die übrigen Gäste einfanden. Der Tisch war für Viertel nach neun bestellt. O'Connor weilte auf seinem Zimmer, um erneut die Garderobe zu wechseln. Auf der Rückfahrt mit Kuhn hatte er sich augenscheinlich lammfromm gegeben und war verschiedentlich eingenickt. Sie hatten das I. Physikalische Institut vor einer Dreiviertelstunde verlassen, und Wagner hatte voller Verblüffung festgestellt, dass man sich dort von O'Connors Arroganz kein bisschen gekränkt zeigte.
»Natürlich hat er einen Vogel«, hatte Schieder beim Abschied erklärt, als sie ein Stück hinter den anderen zurückblieb, um sich zu entschuldigen. »Aber keiner hier hat etwas anderes erwartet. Ich meine, er ist brillant! Denken Sie mal darüber nach, wie viele wohl erzogene und ausgeglichene Leute das von sich behaupten können. Der Mann ist ein Künstler. Die besten freischaffenden Physiker sind Künstler.«
»Das gehört wohl auch zu den Dingen, die keiner weiß, stimmt's?«
»Stimmt. Darum tun wir uns ja so schwer, finanzkräftige Galeristen zu finden. Schönen Abend. Ihr Schützling war prima.«
Es stimmte schon, was Schieder sagte. O'Connor war ein Künstler.
Aber musste er sich deswegen gleich so benehmen wie eine ganze Horde davon?
» …verstehe durchaus, dass man einen Autor, der Spitzentitel schreibt, nicht in die Würstchenbude schleppt«, sagte Kuhn gerade. »Aber das ist ein gutes und renommiertes Restaurant. Sie hingegen tun immer so, als hätte ich … Oh, sie kommen!«
Durch das Foyer näherten sich drei Männer und zwei Frauen. Da war der Buchhändler, ein jovial wirkender Mensch von gesundem Aussehen. Er war natürlich weitaus mehr. Seiner Familie gehörte eine der beiden großen Buchhandlungen der Stadt. Wagner wusste, dass in Köln ein Kampf der Giganten tobte. Die Frage, welcher Adresse man den Vorzug gab, hatte einiges Fingerspitzengefühl erforderlich gemacht. Der hiesige Markt wurde beherrscht von Gonski, dem Ableger aus der Bouvier-Gruppe, und der Mayer'schen. Beide Kontrahenten teilten sich den Neumarkt im Herzen der Innenstadt, wo sie einander
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