Lautstärke beweist gar nichts - respektlose Wahrheiten
erblicken. Sind es gewohnt, weil wir, wenn wir sie übersehen oder glauben sie über sehen zu haben, genügend Diskretion besitzen, es uns nicht anmerken zu lassen. Wir sind ein taktvolles Volk. Bedenkenlos haben wir das Verdienst an dieser schönen und prächtigen neuen Zivilisation der Vorsehung zugeschrieben und sind in unserem Lob für diese große Wohltat ziemlich maßlos gewesen; wir haben über die grandiose Beachtung, die sie uns fünf Minuten lang geschenkt hat, nicht schweigen können, wir können nur über die Jahrhunderte der Vernachlässigung schweigen, die ihr vorausgingen und die sie so bemerkenswert machen. Wenn die Vorsehung einen ihrer Erdenwürmer in einem Sturm ins Meer schwemmt, ihn vierunddreißig Tage auf einer Planke hungern und frieren lässt und ihn am Ende auf einer unbewohnten Insel noch einmal Schiffbruch erleiden lässt, wo er drei Monate von Krabben, Grashüpfern und anderen Schalentieren lebt, um schließlich durch einen alten whiskeygetränkten, gotteslästerlichen und ungläubigen Vagabunden von Kapitän gerettet und ohne Gegenleistung zu seinen Freunden zurückgebracht zu werden, dann vergisst der Erdenwurm, dass es die Vorsehungwar, die ihn über Bord gespült hat, und behält nur, dass die Vorsehung ihn gerettet hat. An der plumpen, langsamen und schwerfälligen Erfindungsgabe der Vorsehung in Sachen Lebensrettung hat er nichts auszusetzen, hat keine sarkastischen Worte für sie übrig, erblickt in ihrer Zögerlichkeit, ihrer Ineffektivität nichts als Nahrung für Bewunderung, empfindet sie als Wunder, als Mirakel; und je länger sie braucht, je ineffektiver sie ist, desto größer das Mirakel; unterdessen gestattet er sich niemals, dem zähen alten Kapitän, der ihn wirklich gerettet hat, ein herzliches, inniges, uneingeschränktes Loblied zu singen, sondern tut ihn halbherzig als »Instrument der rettenden Vorsehung« ab.
Zweifellos ist die mentale Telegraphie ein Treiben, das stets im Stillen wirkt – in der Mehrzahl der Fälle ahnen wir vielleicht nicht einmal, dass sie unsere Gedanken beeinflusst. Ich stelle mir vor, dass uns die meisten Gedanken mittels mentaler Telegraphie aus den Köpfen anderer zufliegen – nicht immer aus den Köpfen von Bekannten, sondern zumeist aus denen von Fremden; weit entfernten Fremden – Chinesen, Hindus und allen möglichen Fremdlingen vom Ende der Welt, deren Sprache wir nicht verstehen würden, deren Gedanken wir jedoch mühelos lesen können.
Hartford, Samstagnacht [15. Mai 1869]
Liebe Livy,
lass mich nur gute Nacht sagen – sonst nichts. Genau wie ich es erwartet & in meinem Brief an Deine Mutter geschrieben habe, hat Mr. Bliss vergessen, den Brief an Dich abzuschicken, & ich entdeckte es eine Stunde nach dem Mittagessen & steckte ihn ein & nahm Kurs auf das Postamt – es schüttete wie aus Kübeln. Ich schnappte mir im Flur einen schmutzigen alten Regenschirm & lief los. Doch dieser Schirm ließ sich zu weit aufklappen & bog sich falsch herum durch – wie ein Trichter –, & Livy, das kannst Du mir glauben, bevor ich drei Blocks weit gegangen war, hatte er mir mehr als achtzehn Tonnen Regenwasser den Rücken hinuntergekippt. Ich war also nass bis auf die Knochen. Ich hatte noch meine leichten Schuhe an & begann das Wasser langsam aufzusaugen . Tonnen & Tonnen saugte ich auf, & das Wasser stieg in mir & stieg in mir höher & höher, bis es mir aus dem Mund & dann aus der Nase kam, & bald darauf begann ich zu weinen, zum Teil aus Trauer & zum Teil weil es überlief, weil ich dachte, ich würde gleich ertrinken, & ich schimpfte mich einen Narren , weil ich ohne einen Rettungsring ausgegangen war, was Livy mir strengstens verboten hat, & was sollte nun aus ihr werden?
Nun, wie Du weißt, wohne ich auf halber Strecke zwischen Hooker und dem Postamt, & es sind schätzungsweise sechs Meilen, & ich kam gerade noch rechtzeitig an, ummeinen Brief dreieinhalb Stunden, bevor die Post schließt, aufzugeben, & ich sag Dir, ich war froh & hielt mich für schlau, & dann kaufte ich vier neue Ausgaben von Appleton’s Journal & ging in die Stadt & besuchte kurz Billy Gross & ging weiter & vergaß meine Zeitschriften & ging zum Photographen & bestellte eine Menge Abzüge vom Negativ des Porzellanporträts, die ich Dir gegeben habe & zog weiter & vergaß meinen Regenschirm – & rannte zurück zu Gross & schnappte mir meine Journale & ging über die Straße & heimwärts & erinnerte mich nach dreieinhalb Meilen an meinen Schirm & sagte mir: »Also
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