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Lautstärke beweist gar nichts - respektlose Wahrheiten

Lautstärke beweist gar nichts - respektlose Wahrheiten

Titel: Lautstärke beweist gar nichts - respektlose Wahrheiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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seiner Vorstellung gibt es so etwas wie eine Überzeugung aus erster Hand, eine ureigene Überzeugung, eine Überzeugung, die durch kühle Verstandesarbeit mittels einer tiefschürfenden Analyse der einschlägigen Tatsachen im Kopf des Menschen entsteht, wobei das Herz nicht zu Rate gezogen wird und das Geschworenenzimmer äußeren Einflüssen verschlossen bleibt. Möglich, dass irgendwo und irgendwann einmal eine solche Überzeugung entstanden ist, doch ich vermute, dass sie entkam, bevor man sie fangen und ausstopfen und im Museum aufstellen konnte.
    Ich bin ganz sicher, dass ein kühl durchdachtes und unabhängiges Urteil über eine Mode in der Kleidung, im gesellschaftlichen Verhalten, in der Literatur, in der Politik, in der Religion oder auf irgendeinem anderen Gebiet, das unsere Anteilnahme und Beachtung erweckt, etwas äußerst Seltenes ist – sofern es überhaupt jemals existiert hat.
    In der Bekleidung kommt etwas Neues auf – der weite Reifrock zum Beispiel –, und die Vorübergehenden sind entsetzt, die Respektlosen lachen. Sechs Monate später sind alle damit versöhnt, die Mode hat sich durchgesetzt; jetzt bewundert man sie, und kein Mensch lacht. Die öffentliche Meinung hat sie vorher missbilligt, die öffentliche Meinung nimmt sie jetzt wohlwollend auf und fühlt sich dabei unbefangen. Warum! War die Missbilligung durchdacht? War die wohlwollende Aufnahme durchdacht?Nein. Der Anpassungstrieb bewirkte das. Es liegt in unserer Natur, uns anzupassen; das ist eine Kraft, der nur wenige erfolgreich widerstehen können. Wo ist sie zu suchen? In dem angeborenen Drang nach Selbstbilligung. Wir alle müssen uns ihm beugen; es gibt keine Ausnahmen. Selbst die Frau, die es von Anfang bis Ende ablehnt, den Reifrock zu tragen, fällt unter dieses Gesetz und ist seine Sklavin; sie könnte nicht den Rock tragen und ihre eigene Billigung bewahren; und diese muss sie haben, sie kann nicht anders. Doch in der Regel ist die Quelle unserer Selbstbilligung nur an einer Stelle und nirgendwo anders zu finden – in der Billigung durch andere. Eine sehr bedeutende Person kann jede beliebige Neuerung in der Kleidung einführen, und die Allgemeinheit übernimmt sie sehr bald – in erster Linie dazu bewogen durch den natürlichen Trieb, passiv dem verschwommenen Etwas nachzugeben, das man als Autorität anerkennt, und in zweiter Linie durch den menschlichen Drang, sich der Masse anzuschließen und ihre Billigung zu gewinnen. Eine Kaiserin führte den Reifrock ein, und wir kennen die Folgen. Ein Niemand führte den langen Schlüpfer ein, und wir kennen die Folgen. Kehrte Eva mit ihrem weltweiten Ruhm wieder und führte ihre eigenartige Tracht ein – nun, wir wüssten, was dann geschähe. Und es wäre uns wahnsinnig peinlich, in der ersten Zeit.
    Der Reifrock hat seine Zeit und verschwindet. Niemand denkt darüber nach. Eine Frau geht von dieser Mode ab; ihre Nachbarin bemerkt es und folgt ihrem Beispiel; dasbeeinflusst die nächste Frau und so weiter und so weiter, und dann ist der Rock aus der Welt verschwunden, niemand weiß wie noch warum, und es interessiert auch keinen. Er wird später einmal wiederkommen und wird zu seiner Zeit auch wieder gehen.
    Vor fünfundzwanzig Jahren stand in England bei einem Festessen eine Gruppe von sechs oder acht Weingläsern vor jedem Gedeck, und man benutzte sie auch, ließ sie nicht etwa müßig und leer dastehen; heutzutage stehen nur drei oder vier in der Gruppe, und der Durchschnittsgast verwendet nur eines oder zwei und das zurückhaltend. Wir haben diese neue Mode noch nicht übernommen, werden es aber bald tun. Wir werden es nicht zu Ende denken; wir machen nur mit und lassen es damit bewenden. Wir beziehen unsere Vorstellungen, Gewohnheiten und Überzeugungen aus äußeren Einflüssen; wir brauchen sie nicht zu durchdenken. Unsere Tischsitten, unser Verhalten in Gesellschaft und auf der Straße ändert sich von Zeit zu Zeit, aber die Veränderungen werden nicht durchdacht; wir nehmen sie nur zur Kenntnis und richten uns danach. Wir sind Geschöpfe der äußeren Einflüsse; in der Regel denken wir nicht, wir ahmen nur nach. Wir sind nicht imstande, Maßstäbe zu erfinden, die unveränderlich blieben; was wir fälschlich für Maßstäbe halten, sind nur Moden und deshalb vergänglich. Wir bewundern sie vielleicht auch weiterhin, aber wir wenden sie nicht mehr an. Das können wir in der Literatur feststellen. Shakespeare ist ein Maßstab,und vor fünfzig Jahren schrieben wir

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