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Lautstärke beweist gar nichts - respektlose Wahrheiten

Lautstärke beweist gar nichts - respektlose Wahrheiten

Titel: Lautstärke beweist gar nichts - respektlose Wahrheiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Saft aus den Ohren lief. Es blieb nur noch die leere Schale übrig. Sie war groß genug, dass sie als Kinderwiege hätte dienen können. Ich wollte sie nicht verschwenden, aber mir fiel auch nichts ein, was ich mit ihr anstellenkönnte, um mir ein wenig Amüsement zu verschaffen. Ich saß am offenen Fenster, das auf den Gehsteig der Hauptstraße zwei Stockwerke unter mir hinausging, als mir in den Sinn kam, sie jemandem auf den Kopf fallen zu lassen. Ich war unschlüssig wegen der Tollkühnheit dieser Idee und hatte auch einige Bedenken, weil das Amüsement größtenteils zu meinen Gunsten und kaum zugunsten der anderen Person ausfallen würde. Aber ich entschloss mich, es zu wagen. Ich sah aus dem Fenster und wartete, dass der Richtige vorbeikäme – ein sicherer Kandidat –, aber er zeigte sich nicht. Jeder Kandidat oder jede Kandidatin stellte sich als unsicher heraus, und ich musste mich zurückhalten. Endlich aber sah ich den Richtigen nahen. Es war mein Bruder Henry. Er war der bravste Junge der ganzen Gegend. Er tat niemandem etwas zuleide, er kränkte niemanden. Er war zum Verzweifeln brav. Er war von überbordender Güte – aber sie reichte nicht, um ihn auch diesmal zu retten. Ich beobachtete sein Herannahen mit gespanntem Interesse. Er kam angeschlendert, träumte seinen angenehmen Sommertraum und zweifelte nicht daran, dass er sich in der Obhut der Vorsehung befand. Hätte er gewusst, wo ich saß, wäre sein Vertrauen in diesen Aberglauben weniger stark gewesen. Als er sich näherte, verkürzte sich seine Gestalt. Als er sich fast unter mir befand, war er so verkürzt, dass von meinem erhöhten Standort aus nichts als seine Nasenspitze und seine abwechselnd voranschreitenden Füße zu sehen waren. Da hielt ich die Wassermelone hinaus,berechnete die Entfernung und ließ sie mit der ausgehöhlten Seite nach unten fallen. Die Präzision des Geschosses konnte man gar nicht genug bewundern. Mein Bruder musste noch genau sechs Schritte gehen, als ich das Kanu losließ, und es war entzückend, zu beobachten, wie die beiden Körper einander langsam näher kamen. Hätte er noch sieben oder fünf Schritte vor sich gehabt, wäre mein Geschoss danebengegangen. Aber es war genau die richtige Anzahl Schritte, und die Schale fiel ihm mitten auf den Kopf und trieb ihn bis zum Kinn in den Erdboden. Die Stücke der zerschmetterten Wassermelone spritzten wie Gischt in alle Richtungen und zerbrachen die Fenster im zweiten Stock. Man musste eine Hebevorrichtung herbeischaffen, wie man sie zum Hieven von Gebäuden benutzt, um Henry hochzuwuchten. Ich wollte hinuntergehen und ihm mein Mitgefühl aussprechen, aber es wäre zu riskant gewesen. Er hätte mich sofort verdächtigt. Ich rechnete so oder so damit, dass er mich verdächtigen würde, doch als er sein Abenteuer zwei, drei Tage überhaupt nicht erwähnte – ich behielt ihn die ganze Zeit im Auge, um mich vor Gefahr zu schützen –, glaubte ich schon, dass er mich dieses eine Mal nicht im Verdacht hatte. Das war ein Fehler. Er wartete nur auf eine günstige Gelegenheit. Schließlich warf er mir einen Pflasterstein an die Schläfe, der eine so große Beule hervorrief, dass ich eine Zeitlang zwei Hüte tragen musste. Ich brachte dieses Verbrechen meiner Mutter zur Anzeige, denn ich wollte immer, dass Henry Ärger mit ihrbekäme, hatte jedoch nie Erfolg. Diesmal glaubte ich, leichtes Spiel zu haben, wenn sie nur erst einmal diese mörderische Beule sähe. Ich zeigte sie ihr, aber sie meinte, das sei nichts. Sie brauchte auch gar nicht erst nach den Umständen zu fragen. Sie wusste, dass ich die Beule verdient hatte und dass es das Beste für mich sein würde, sie als wertvolle Lektion zu akzeptieren und auf diese Weise Nutzen daraus zu ziehen.
    Nach jeder Tragödie begriff ich die Warnung und bereute; bereute und bettelte; bettelte wie ein Feigling, bettelte wie ein Hund. […]
    Meine Reue war jedes Mal sehr echt, sehr ernst; und nach jeder Tragödie stellte sie sich lange Zeit allnächtlich ein. Das Tageslicht hingegen konnte sie meist nicht ertragen. Sie verblasste, zerfiel und verschwand im hellen Glanz der Sonne. Sie war ein Geschöpf der Furcht und der Finsternis und andernorts nicht von Dauer. Der Tag schenkte mir Mut und Frieden, und des Nachts bereute ich von neuem.

Wir mit unserer winzig kleinen
Welt!
    Die Größe eines Unglücks ist nicht mit dem Maßstab eines Außenstehenden zu messen, sondern nur mit dem Maßstab dessen, der unmittelbar davon berührt ist.

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