Lavendel und Blütenstaub
dass Erwin sich immer gegen diese Familientradition gewehrt hatte. Er wollte immer erfolgreich sein und so viel Geld verdienen, dass er seiner Familie alles bieten konnte. Johann und ich haben ihn damals aber nicht ernst genommen." Überzeugt fügte sie hinzu: "Er tat das einzig Richtige, Stella."
"Einen Generationenbetrieb zu verkaufen, war das Richtige, sagst du?" Stella schüttelte den Kopf. "Nein, so einfach kommt Erwin mir nicht davon. Er hat Papa damit das Herz gebrochen! Wenn jemand an seinen Magengeschwüren schuld war, dann Erwin, und das weißt du genau!" Wütend sah sie Anna an.
Anna starrte mit Tränen in den Augen zurück. "Nein, Stella, das stimmt nicht." Eine einzelne Träne bahnte sich ihren Weg über die Wange und tropfte auf die Tischplatte. "Erwin ist nicht schuld an Johanns Tod!"
Stella erwiderte nichts. Stattdessen ging sie hinaus in den Garten, um die Gießkanne zu holen. Wütend stapfte sie durch das Gras und goss die Blumen.
Es war ein heißer Tag gewesen. Die Erde war trocken und Stella verbrachte eine Stunde damit, die Blumen, Kräuter und Gemüsebeete zu gießen. Sie brauchte jetzt Ablenkung und körperliche Arbeit, um ihre Gefühle zu besänftigen und ruhig zu werden.
Sie wollte mit ihrer Mutter nicht streiten. Schon gar nicht in diesem Zustand. Auch wollte sie eigentlich nicht mit Erwin streiten, immerhin war er ihr Bruder. Trotzdem konnte sie einfach nicht über diesen Verrat hinwegsehen, und schon gar nicht konnte sie ihm verzeihen. Für sie war er schuldig, sowohl des Familienverrats als auch an dem Tod von Johann. Wäre Erwin und sein Egoismus nicht gewesen, dann wäre ihr Vater noch am Leben, dessen war sie sich sicher.
Anna hatte sich unter den Nussbaum auf die Bank gesetzt und sah ihrer Tochter zu. Eigentlich wollte sie bei der Gartenarbeit helfen, doch Stella hatte ihr verboten, selbst Hand anzulegen, da sie sich schonen solle.
Mittlerweile war die Sonne untergegangen. Es dämmerte, doch es war noch warm. Die Grillen zirpten und die ersten Sterne erschienen hell leuchtend am Himmel. Hier und dort leuchteten Glühwürmchen im Gras.
Stella war mit dem Blumengießen und Unkrautjäten fertig, holte eine Strickjacke aus dem Haus und legte sie Anna über die Schulter. Sie setzte sich neben sie.
"Es ist so friedlich hier", sagte Anna mit leiser Stimme. Ihr Blick schweifte in die Ferne. "Danke, Stella. Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast." Sie drückte Stellas Hand.
Eine Zeitlang saßen Mutter und Tochter in trauter Zweisamkeit nebeneinander. Vergessen war die bedrückte Stimmung von vorhin.
"Weißt du noch, Papas sechzigster Geburtstag?"
Anna nickte.
"Wir hatten den ganzen Garten mit bunten Lampions dekoriert und der Weg war mit Fackeln gesäumt. Papa kam erst um sieben aus dem Geschäft und hatte keine Ahnung." Stella lachte. "Ich weiß noch genau, wie seine Augen geleuchtet hatten, als er uns alle sah. Er dachte nämlich, wir hätten seinen Geburtstag vergessen, weißt du noch? Und dann sagte er ..."
"... das ist die schönste Überraschung, die ich je bekommen habe!", vollendete Anna den Satz leise mit einem Lächeln.
Stella nickte. "Ja, und dann hat Aurelia ein Ständchen gesungen. Wie alt war sie nochmal?" Sie versuchte sich zu erinnern.
"Sechs Jahre", sagte Anna ohne nachzudenken. Sie war ein Genie, was Jahreszahlen und Ereignisse betraf. Stella bewunderte das Gedächtnis ihrer Mutter oft.
"Stimmt. Irgendwie ist es, als ob es gestern gewesen wäre, und doch ist es schon so lange her." Stella sah in die Ferne. "Viel ist seitdem passiert", sagte sie gedankenverloren.
Anna
Mitte der sechziger Jahre gab es am Rande der Stadt in einer kleinen Siedlung ein Grundstück zu kaufen. Anna und Johann hatten bis dahin in einer Drei-Zimmer-Wohnung gelebt. Erwin war bereits elf Jahre alt gewesen und Stella hatte gerade ihren ersten Geburtstag hinter sich.
Das Grundstück war ideal für die Familie; großflächig und abgelegen. Das einzige Manko war der Bach, der nebenan vorbeifloss. Kritisch hatte Anna ihn beäugt, doch da Johann nicht wusste, warum seine Frau so eine Abneigung gegen Gewässer hatte, hatte er sie zu überreden versucht, dem Grundstückskauf doch zuzustimmen. Schließlich hatte Anna eingewilligt, unter der Bedingung, dass Johann sofort eine dichte, unüberwindbare Hecke pflanzen musste, mit einem Holzzaun dahinter. Nach siebenundvierzig Jahren war der Zaun zwar alt und morsch geworden und zum Teil gebrochen, aber die Hecke davor war hoch
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