Lavendel und Blütenstaub
Ruhiger fuhr sie fort: "Die letzten Tage haben mein Leben stark verändert und ich möchte, dass ihr endlich einmal normal miteinander umgeht. Ist das irgendwie möglich?" Fragend sah sie ihre erwachsenen Kinder an. "Wir wissen alle, dass ich unheilbar krank bin. Mir schmeckt das ebenso wenig wie euch, das könnt ihr mir glauben. Meinen Lebensabend hatte ich mir wahrlich anders vorgestellt." Sie senkte den Kopf und blickte auf ihre Hände in ihrem Schoß. "Ich dachte immer, wenn man schon ein schweres Schicksal hatte, so wie ich durch den Verlust meines lieben Johanns, dann ist man davor gefeit, selbst an einer schlimmen Krankheit zu sterben. Anscheinend war es ein Wunschdenken." Sie hob ihre Hände zu einer entschuldigenden Geste und blickte traurig von Erwin zu Gabriela und dann zu Stella.
Es war still im Raum. Erwin hatte seinen Kaffee ausgetrunken und starrte in die leere Tasse. Er räusperte sich. Seine Stimme klang in dieser Stille ungewohnt laut.
"Das heißt, du gibst auf? Du hast dich von Stella nach Hause bringen lassen, um zu sterben?" Seine Stimme klang brüchig und zitterte.
Liebevoll sah Anna ihren Sohn an. "Nein, Erwin, ich habe nicht aufgegeben. In Wirklichkeit hatte ich nie eine andere Möglichkeit." Sie beugte sich über den Tisch und berührte seine Hand. "Lasst mich zu Hause sein. Nur hier kann ich glücklich sein. Bitte", fügte sie hinzu.
Erwin sah seine Mutter betroffen an und legte seine Hand auf die ihre. "Ich wollte doch nur das Beste für dich, Mutter."
"Ich weiß." Sie lächelte sanft und sah ihm in die braunen Augen, die denen seines Vaters so ähnelten. "Ich weiß."
Eine Viertelstunde später gingen Erwin und Gabriela. Sie setzten sich in ihre Autos und fuhren nach Hause.
Erwin hatte einen dicken Kloß im Hals und kämpfte gegen die Tränen an. Die Gewissheit schmerzte mehr als er geahnt hatte - er würde seine Mutter verlieren. Früher als ihm lieb war. Im Gegensatz zum Tod seines Vaters würde er dieses Mal jedoch seine Chance nützen und sich von seiner Mutter verabschieden, wenn es soweit war. Er schwor sich, bis zum Schluss für sie da zu sein.
Stella
Sie knallte die Tassen in die Spüle und ließ Wasser darauf laufen. Sie war wütend.
Ihr Bruder unterstellte ihr doch tatsächlich, sie würde ihrer Mutter nichts Gutes tun! Sie! Der Liebling der Mutter! Mamas kleiner Stern, wie Anna immer sagte. Das Letzte, was sie tun würde, wäre, ihre Mutter in irgendeiner Weise in Gefahr zu bringen. Wenn jemand für Anna sorgte, dann war sie es. Und nicht Erwin. Und schon gar nicht diese aufgeblasene Gans Gabriela. Warum war sie eigentlich da gewesen?
"Kannst du dieses Rumwischen einmal sein lassen?"
Stella hielt inne. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie noch immer an der gleichen Stelle am Tisch mit einem Schwamm herum gewischt hatte. Ertappt warf sie ihn in die Spüle zu den Tassen, drehte sich um und verschränkte die Arme. Herausfordernd sah sie Anna an, die auf ihrem Platz am Tisch saß, vor sich eine frische Tasse Tee, die heiß dampfte und wohlriechendes Aroma verströmte.
Draußen im Garten schien die Sonne und warf ihre hellen Strahlen in die Küche. Unter der Weinlaube summten die Bienen und eine freche Nachbarkatze lauerte unter dem Nussbaum einem Vogel auf, der auf einem Ast ein Lied trällerte.
"Wieso bist du eigentlich so nett zu Erwin? Wie konntest du ihm nur verzeihen, nachdem er Papas Lebenswerk verkauft hatte? Du nimmst ihn ja regelrecht in Schutz vor mir!"
Anna sah aus dem Fenster und beobachtete den Vogel. Scheinbar abwesend antwortete sie: "Stella, wenn ich eines im Leben gelernt habe, dann ist es zu verzeihen." Sie riss den Blick vom Nussbaum los und sah ihre Tochter direkt an. "Glaub mir, ich habe lange nicht verstanden, wie Erwin so handeln konnte. 'Waren-Lukas' war seit drei Generationen ein Familienbetrieb, der von Sohn zu Sohn weitervererbt wurde. Erst Jahre später erkannte ich Erwins Dilemma. Er wurde schon als Junge in diese Tradition gepresst, musste als Kind im Laden helfen, machte auf Druck eures Vaters eine Lehre als Einzelhandelskaufmann und übernahm das Geschäft. Ob er das auch wollte, das wurde er nie gefragt. Zu spät habe ich mir selbst eingestanden, dass das eigentlich nicht Erwins Weg war." Sie hielt inne und sah auf ihre Hände. Der Handrücken war immer noch blau vom Einstich des Venenzugangs, doch die Ränder färbten sich langsam grün und gelb und verblassten. Anna sah wieder auf. "Ich erkannte erst Jahre nach Johanns Tod,
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