Lavendel und Blütenstaub
und du wenigstens wieder vereint sein, wenn es soweit ist." Tränen rannen ihre Wangen hinunter. "Ihr beide habt es verdient, dass ihr wieder zusammen seid."
"Ach, Stella, mein Sternchen", sagte Anna und drückte ihre Tochter fest an sich.
Stella schluchzte, weinte unaufhörlich und hielt ihre kleine, schmale Mutter fest umklammert.
"Es gibt ganz bestimmt einen Himmel. Glaub' es mir", flüsterte Anna, dann ließ sie Stella los und sah sie ernst an. "Weißt du eigentlich, warum du so einen außergewöhnlichen Namen hast? Warum du 'Stella' heißt?"
"Weil ich immer euer kleines Sternchen war", antwortete Stella mit tränenerstickter Stimme.
"Nein, Schätzchen, weil du Valeries Sternchen bist."
Und dann erzählte sie ihrer Tochter zum ersten Mal die Geschichte, über die sie Jahrzehnte lang mit niemanden gesprochen hatte.
Anna
Sie war erst neunzehn Jahre alt gewesen, als sie geheiratet hatte. Was viele nicht gewusst hatten: Sie war auch schwanger gewesen.
Anfang der fünfziger Jahre war es unsittlich gewesen, als ledige junge Frau ein Kind zu bekommen. Doch Anna hatte Glück - der Vater ihres Kindes wollte sie heiraten. Da sie keine andere Wahl hatte, willigte sie ein.
Johann war bis über beide Ohren in Anna verliebt gewesen. Er trug sie sprichwörtlich auf Händen und legte ihr die Welt zu Füßen.
Eigentlich wollte sie nach Beendigung ihrer Lehre ein wenig in der Welt herumreisen und etwas erleben, doch eine verhängnisvolle Nacht mit Johann, den sie zwar sehr mochte, aber von dem sie nichts Ernsthaftes gewollt hatte, änderte ihre Zukunftspläne.
Die Hochzeit fand im Spätherbst statt, Erwin kam im Frühjahr darauf zur Welt. Johann war stolz auf seinen Sohn. War er sich nun auch sicher, dass der Generationenbetrieb der Familie Lukas weitervererbt werden konnte.
Zwei Jahre später war Anna wieder schwanger gewesen. Sie hatte sich mittlerweile in die Rolle der Hausfrau und Mutter gefügt. Die Liebe und der Respekt zu Johann waren gewachsen und auch im Laden waren die beiden ein eingespieltes Team geworden. Als zukünftiger Inhaber von "Waren-Lukas" musste Johann viel arbeiten. Anna besuchte ihn mit dem zweijährigen Erwin im Laden sooft es ging und half tatkräftig mit.
Sie war gerade im achten Monat schwanger, als eine Bestellung ins Geschäft geliefert wurde. Es waren sechs Kisten mit frischgepresstem Apfelsaft. Sie war alleine im Laden und hatte gerade einen Kunden zu betreuen. Also wies sie den Lieferanten an, die Kisten ins Lager zu stellen. Als sie später nachsah, sah sie, dass die schweren Kisten nur notdürftig abgestellt worden waren und den Weg versperrten. Wütend schnaubte Anna und sah auf die Uhr. Johann würde erst in zwei Stunden zurück sein, Erwin spielte noch brav auf seiner Decke am Boden. So packte sie also eine Kiste nach der anderen und stellte sie selbst ins Lager.
Sie hatte sich nicht viel dabei gedacht. Schwere Arbeit war sie gewohnt. Als nach der letzten Kiste ein stechender Schmerz durch den Unterleib fuhr, zuckte sie zusammen und stützte sich an den Regalen des Lagers ab.
Johann fand seine Frau zwei Stunden später im Laden hinter der Verkaufstheke. Sein Sohn weinte herzerweichend und sein Gesicht war völlig nass geschwitzt. Das kleine Hemdchen war übersät von Rotz und Tränen.
"Was ist denn hier los?", rief er, um den Lärm von Erwin zu übertönen. Erst als er hinter die Theke trat, sah er, dass seine Frau von Krämpfen geschüttelt in einer Lache aus Blut am Boden saß.
Im Krankenhaus dauerte die Geburt nur noch eine Stunde. Mit der Saugglocke wurde das Baby auf die Welt geholt. Anna schrie vor Schmerzen. Als das Kind endlich da war, war es still. Anna lag, erschöpft von der schweren Geburt und dem starken Blutverlust, in ihrem Kissen und wartete auf das erlösende Schreien des Babys, doch es kam nichts. Es war bereits tot. Noch ehe Johann einen Blick auf das Kind werfen konnte, brachten es die Schwestern hinaus.
"Es war eh nur ein Mädchen", sagte der Arzt lapidar, setzte sich ungerührt zwischen Annas Beine und begann sie zu nähen.
Johann starrte den Arzt an und begann still zu weinen.
Anna und Johann brauchten Jahre, bis sie den Tod ihrer Tochter überwunden hatten. Sie nannten sie Valerie, nach Annas Großmutter. Jeder schien sie nach kurzer Zeit vergessen zu haben, weder Annas noch Johanns Familie sprach von ihr. Irgendwann hörte auch Anna auf, von Valerie zu sprechen. Nur im Gedanken dachte sie an ihre Tochter, die sie nie zu Gesicht bekommen
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