Lavendel und Blütenstaub
mich an!"
Stella schwieg.
"Zu meiner und auch zu eurer Zeit hätte es das nicht gegeben. Wann wirst du endlich einsehen, dass es nicht gut für einen Jungen war, ohne Vater aufzuwachsen? Ich habe dir damals oft genug gesagt, dass ..."
"Ja, ja, ich weiß. Ein Kind braucht Vater und Mutter. Was sollte ich denn bitte tun, wenn Flavio einfach zurück nach Italien abgehauen ist? Du weißt doch, wie es war!"
Anna wusste nur zu gut wie es war. War sie es doch gewesen, die Stella aufgefangen und getröstet hatte. Wäre sie nicht gewesen, wäre wohl Jonathan noch mehr auf der Strecke geblieben. Auch finanziell hatte Anna ihrer Tochter geholfen. Das Haus musste Stella nach der Scheidung alleine abbezahlen, weshalb sie auch bald wieder arbeiten gehen musste.
"Was hätte ich denn sonst tun sollen?" Stella hatte Tränen in den Augen. "Du weißt doch, dass ich alles Menschenmögliche getan hatte, um ihm eine gute Mutter zu sein!" Ihre Stimme zitterte.
Anna nahm ihre Tochter in die Arme. "Schscht, ist ja gut, mein Sternchen. Ich weiß."
Minutenlang standen Mutter und Tochter innig umarmt, dann läutete das Telefon. Anna hob ab. "Ja, hallo?"
"Mutter! Wie geht es dir?"
"Hallo Erwin." Sie warf Stella einen Blick zu. Diese verdrehte die Augen und ging zur Terrassentür hinaus in den Garten. "Mir geht es gut. Ich hatte eine schlechte Nacht, aber es geht mittlerweile."
"Ja, danke, dass mir das auch einmal jemand mitteilt", sagte Erwin genervt. "Ich habe eben mit Dr. Werneck gesprochen, und da erfuhr ich zufällig, dass du stärkere Schmerzmittel verschrieben bekommst."
"Das ist doch erst ein paar Stunden her. Wir hätten dich schon noch angerufen."
"Wir? Wohl kaum. Stella konnte mir doch nicht einmal vorhin am Telefon sagen, was los war. Ich hatte mich schon gewundert, warum du so lange schläfst." Erwin schwieg kurz und atmete tief ein. "Weshalb ich eigentlich anrufe, Mutter: Ich habe von einem neuen Medikament gelesen, dass bei fortschreitendem Leberkrebs eingesetzt wird, und Dr. Werneck ist damit einverstanden, dass wir es probieren werden. Wir dachten uns, ..."
"Nein."
"Was?"
"Ich sagte Nein."
Erwin schwieg. Dann sagte er abwesend: "Sie sagt Nein. Ist das zu fassen? Mutter", sagte er eindringlich in den Hörer, "dieses Medikament hemmt das Wachstum der Tumorzellen. Du kannst damit länger leben!"
"Und ich sage Nein!"
"Und warum?"
"Weil ich nicht ewig dahinsiechen und nur von anderen abhängig sein will! Darum!"
"Aber Mutter, du wirst doch nicht dahinsiechen. Du kannst doch noch so leben wie bisher!"
"Nein, kann ich nicht, und das weißt du." Sie machte ein Pause, dann fügte sie etwas ruhiger hinzu: "Nicht nur du hast dich informiert, auch ich kenne mich nun ein wenig aus. Die Schmerzen werden schlimmer werden, auch wenn ich irgendein Zeug nehme, um das 'Wachstum zu hemmen', wie du so schön sagst. Meine Lungen sind befallen, das fühle ich nun jeden Tag mehr, seit ich das weiß. Und es wird schlimmer. Ich will das alles mit Würde ertragen und von der Erde gehen, wenn es soweit ist. Auf lebensverlängernde Medikamente oder Maßnahmen verzichte ich, hast du verstanden?"
Anna legte auf. Sie hatte eine Entscheidung getroffen.
Erwin
Er saß in seinem Büro, starrte das Telefon in seiner Hand an und konnte es nicht fassen. Seine Mutter hatte doch tatsächlich aufgelegt! Merkte sie denn nicht, dass er nur das Beste für sie wollte? Verstand sie denn nicht, dass er nicht auch noch am Tod seiner Mutter Schuld haben wollte? Er wollte sich nicht später eingestehen müssen, dass er nicht alles versucht hatte, was in seinen Möglichkeiten stand. Er hatte einen gut bezahlten Job, ein schuldenfreies Haus, seine Frau verdiente manchmal sogar mehr als er selbst, wenn sie ein großes Projekt abgeschlossen hatte - da würde es doch wohl möglich sein, seiner Mutter die beste Therapie zu ermöglichen?!
Erwin legte den Kopf in die Hände. Mit den Handflächen drückte er fest auf seine Augen. Regungslos saß er da und versuchte das Gefühl, die Kontrolle verloren zu haben, zu unterdrücken.
Die Unterlagen, die sich auf seinem Schreibtisch türmten, waren nebensächlich geworden. Er konnte sich sowieso nicht konzentrieren. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor zwölf.
Er beschloss, Feierabend zu machen und die restliche Arbeit mit nach Hause zu nehmen. Es war sein letzter Arbeitstag vor dem wohlverdienten Urlaub, doch wieder einmal würde ihn die Arbeit bis nach Hause verfolgen.
Selbst schuld, sagte er sich und
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