Lavendel und Blütenstaub
schwänzte die Schule und lernte nur noch selten für Schularbeiten. Erst als Erwin, auf Annas Bitte, den Jungen zur Seite nahm und ein ernstes Wörtchen mit ihm redete, kratzte er gerade noch die Kurve und schaffte doch noch den Hauptschulabschluss.
Nach der Pflichtschule setzte sich die Lustlosigkeit fort. Jonathan hatte einfach kein Interesse daran, weiter zur Schule zu gehen oder gar eine Lehrausbildung zu absolvieren. Die Zukunft war ihm egal, zu Hause hatte er ja sowieso alles. Hotel Mama war einfach zu angenehm für den Jungen. Nach Abbruch der darauf folgenden Lehre war er für seine Verhältnisse so tief gesunken, dass er eigenständig nicht mehr heraus konnte. Er wollte aber irgendwie auch gar nicht. Wenn alles so lief wie bisher, dann war es ja egal. Er hatte ein Dach über den Kopf, essen auf dem Tisch und Geld vom Staat, auch wenn es nicht viel war. Warum also etwas ändern?
Als Jonathan nun aber die Patientenverfügung sah und ihm so richtig bewusst wurde, dass seine Oma womöglich ernsthafter krank war als er gedacht hatte, veränderte sich etwas in ihm.
Noch nie hatte er sich über den Tod Gedanken gemacht. Sein Großvater war gestorben, da war er erst zwei Jahre alt gewesen. Er konnte sich nicht einmal an ihn erinnern. Seitdem hatte er kein Familienmitglied betrauern müssen und auch im Freundeskreis war niemand gestorben.
Nun aber verstand er, warum seine Mutter weinte. Seine Oma würde sterben. Sonst würde sie sich ja wohl nicht um ihr Begräbnis Gedanken machen, oder?
Den ganzen restlichen Nachmittag tigerte Jonathan unruhig hin und her. Er ging raus, setzte sich in sein Auto, um Musik zu hören, ging dann wieder rein, setzte sich an den Tisch, trank etwas. Dabei tat er so, als würde er die Zettel auf der Anrichte nicht sehen, die fein säuberlich gestapelt dort abgelegt waren.
Stella und Anna waren wie immer. Sie lachten, redeten, fragten ihn von Zeit zu Zeit belanglose Sachen. Er gab einsilbige Antworten, und so ließen sie ihn wieder in Ruhe. Abends zog er sich früh ins Wohnzimmer auf die unbequeme Schlafstätte zurück. Stella und Anna saßen draußen auf der Terrasse. Noch lange konnte er sie reden hören. Irgendwann schlief er ein.
In dieser Nacht träumte Jonathan von einem Mann mit schwarzer Kapuze, mit einer Sense in der Hand. Dieser lachte laut und wollte immer wieder nach ihm greifen. Er versuchte wegzulaufen, doch er kam nicht vom Fleck. Es war, als würde er im Wasser gegen die Strömung laufen wollen. Dann sah er einen offenen Sarg, in dem Anna lag. Er wollte zu ihr hingehen und sie wach rütteln, sie zum Leben erwecken, doch etwas hielt ihn fest. Als er sich umdrehte, sah er, dass seine Mutter ihn an den Schultern gepackt hatte. Ihre Augen waren schwarz umrandet und blickten ihn tot an. Schreiend wachte Jonathan auf.
Der Blick auf die Uhr verriet, dass es erst vier Uhr morgens war. Zu früh zum Aufstehen. Noch immer verwirrt und aufgewühlt von dem Traum, rieb er sich die Augen und legte sich wieder hin. Sein Herz raste und er verdrängte den Gedanken, dass er ab morgen auf eine sterbenskranke Frau aufpassen musste. Der Pflegeurlaub seiner Mutter war vorbei.
Erwin
Der erste Urlaubstag begann regnerisch. Der Himmel war wolkenverhangen und tiefgrau. Die Sonne war nicht einmal zu erahnen. Wieder typisch, dachte er und fluchte leise, als er in Jogginghose und T-Shirt bekleidet in die Küche ging.
Gabriela war schon wach. Sie saß am Küchentisch, mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Vor ihr lag eine Architekturzeitschrift, in der sie blätterte. Auch sie war ungewohnt leger bekleidet und trug Leggins und ein langärmeliges Top. Außenstehende würden dieses geschäftstüchtige Pärchen so wohl nie zu Gesicht bekommen.
"Morgen", brummte Erwin. Seine Laune war im Keller.
"Guten Morgen, mein Schatz!" Gabriela sah auf und lächelte ihren Mann an.
Er gab ihr einen Kuss und schlurfte weiter zur Kaffeemaschine.
"Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?"
"Schon mal rausgesehen?"
Sie drehte sich um und sah durch die bodentiefen Fenster in den Garten hinaus. "Und, was ist da?", fragte sie unschuldig grinsend.
"Es regnet", erklärte Erwin langsam, während er beobachtete, wie der Kaffee in die Tasse lief. "Wochenlang ist es schön und wir hocken Tag für Tag bei Hitze und Sonnenschein im Büro. Kaum haben wir EINMAL Urlaub, schlägt das Wetter um und es regnet." Übellaunig nahm er die Tasse und setzte sich an den Tisch.
"Ach Schatz, das ist doch nur
Weitere Kostenlose Bücher