Lavendel und Blütenstaub
Luftbefeuchter sprudelte Nebel hervor. Jonathan bemerkte daneben ein kleines Fläschchen mit Lavendelduft. Jetzt wusste er auch, warum es so intensiv im Zimmer roch.
"Komm her, Jonathan."
Er stand noch immer neben der Tür und sah nun auf Sybille, die ihn angesprochen hatte. Zögernd ging er auf sie zu.
"Setzt dich zu mir", sagte Anna und klopfte neben sich auf das Bett. "Deine Sybille scheint eine ganz Nette zu sein." Sie hielt seine Hand fest. Knochig klammerten ihre Finger sich in seine.
Er war versucht, die Hand wegzuziehen, doch er beherrschte sich.
"Komm her, Sybille." Sie nahm mit der anderen Hand auch ihre und hielt sie fest. "Ich kenne dich seit du ganz klein warst. Deine Oma hatte es nicht leicht, aber du bist ein ganz tolles und liebes Mädchen geworden. Ich freue mich für euch, dass ihr euch gefunden habt." Sie sah beide an und lachte. Die Hände hielt sie immer noch fest. "Geht euren Weg, streitet euch, aber vertragt euch wieder, redet viel. Das ist der Rat einer alten Frau. Nur durch das Reden kommen Leute zusammen, das hat meine Großmutter früher immer zu mir gesagt. Und vergesst nicht, an eure Liebe zu glauben. Ich sehe es doch, wie du Jonathan den Kopf verdreht hast."
Jonathan senkte den Kopf. Es war ihm peinlich, dass Anna so offen mit Sybille sprach.
"Behaltet euch eure Liebe und euren Respekt. Jonathan ist ein guter Junge, auch wenn er manchmal nicht leicht ist." Aufmunternd klopfte sie seine Hand und sah wieder zu Sybille. "Du wirst ihn ein bisschen bändigen müssen, aber du schaffst das."
Es war eine lange halbe Stunde, die er mit Sybille am Bett seiner Großmutter verbracht hatte, und als er endlich in der Küche saß, war er erleichtert, es hinter sich zu haben.
"Anna ist eine sehr liebe Frau. Du kannst dich glücklich schätzen, so eine Oma zu haben."
"War dir das nicht unangenehm?", fragte Jonathan erstaunt.
"Nein, warum denn?" Sybille sah ihn entrüstet an. "Unterschätze nie den Rat einer alten sterbenden Frau! Eine Freundin von mir arbeitet in einem Altersheim und sie hat mir gesagt, dass die Worte, die Sterbende sagen, sehr viel Weisheit und Wert hätten!"
Jonathan schwieg. Verlegen spielte er mit der Tasse, die vor ihm auf dem Tisch stand. "Und, was hältst du von ihr?"
Sybille nahm seine Hand. "Deine Oma ist ein ganz wundervoller und kluger Mensch. Nutze die Zeit noch, solange sie hier ist. Es wird wohl nicht mehr lange dauern." Traurig sah sie ihn an.
Aurelia
Einmal noch sollten die Kinder ihre Uroma sehen dürfen. Stella hatte gemeint, dass wohl nicht mehr viel Zeit bleiben würde.
"Schatz! Bist du fertig?"
Christopher schlüpfte in seinen Pullover und kam in den Vorraum, wo Sebastian und Marina fertig angezogen bei der Tür standen.
"Ja, wir können los."
Es war draußen schon kühler geworden. Der Morgen roch nach Herbst und auch die Bäume begannen welke Blätter fallen zu lassen.
Auch vor Annas Haus hatte der Herbst schon Einzug gehalten. Die ersten Blumen ließen ihre Köpfe hängen und Blütenblätter fallen. Der Wind hatte Laub und kleine Äste vor die Haustür geweht. Es fehlte Annas fleißige Hand, die immer sofort zur Stelle war und alles im und ums Haus sauber gehalten hatte.
Aurelia seufzte. Mit einem Mal durchfuhr sie der Schmerz des Verlustes. Es würde schlimm sein, wenn Oma nicht mehr da und das Haus leer und verlassen sein würde. Ob es verkauft werden würde? Dann wären auch die vielen schönen Plätze von früher weg. Die alte Schaukel hinter dem Haus, die Weinlaube mit dem schattenspendenden Platz, und schließlich das Haus selbst, mit den vielen alten Sachen, Fotos und Erinnerungen.
"Hallo! Kommt rein." Stella empfing sie an der Tür. "Sie schläft gerade." Sie deutete mit der Hand nach oben. "Kommt in die Küche."
Sie ging vor und schaltete die Kaffeemaschine ein. Für die Kinder stellte sie Orangensaft und Kekse auf den Tisch.
Fröhlich machten sie sich über die Süßigkeiten her.
"Psst, seid nicht so laut", ermahnte sie Aurelia. "Hätten wir vorher noch einmal anrufen sollen?", fragte sie an Stella gewandt.
"Nein, schon okay."
Sie sah müde aus. Und erschöpft.
Mitfühlend nahm Aurelia sie in den Arm und drückte sie fest an sich. "Wie geht es dir, Tante Stella?"
Stella genoss sichtlich die Umarmung, dann löste sie sich und atmete tief durch. "Es geht. Es tut zwar weh, sie so krank und hilflos zu sehen und sich dabei selbst so hilflos zu fühlen, aber ich hoffe einfach nur mehr für sie, dass es bald vorbei ist.
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