Lavendel und Blütenstaub
und räusperte sich. Es schien ihr Mühe zu machen, zu sprechen. "Einmal noch zu diesem Fluss ... Justus ... ich ... ich wollte einmal noch dorthin ... es sehen ..."
"Wohin, Anna?", fragte Erni ruhig.
"Zum Fluss ... dort wo das Kiesufer ist ..."
Ihre Augen waren geschlossen, doch Erni wusste, dass Anna sie hörte.
"Na gut, Anna, dann fahren wir dorthin."
Sie nahm den Stuhl und stellte ihn neben Annas Bett. Jetzt waren sie nebeneinander, mit Blick zum Fenster.
Anna sah zu Erni auf und lächelte.
"Anschnallen, Anna, dann geht's los."
Erni hob die Hände, als würde sie ein Lenkrad festhalten. "Wie lange werden wir fahren?", fragte sie.
"Ein paar Minuten. Es ist nicht so weit." Anna hatte die Augen wieder geschlossen. Sekunden vergingen. "Wir sind gleich da. Ich kann den Fluss schon hören ... da, da ist es." Sie lächelte, die Augen immer noch geschlossen.
Erni ließ die Hände sinken und sah still auf Anna.
"Ich war schon so lange nicht mehr hier, wissen Sie?"
Erni nickte.
"Ich hatte immer Angst davor ... aber eigentlich braucht man keine Angst zu haben." Ihre Stimme wurde leiser.
"Danke, Erni", flüsterte sie noch, dann schlief sie ein, mit einem Lächeln auf den Lippen.
Erni blieb noch eine Stunde bei ihr.
Dann begannen Annas Augenlider zu zittern und sie atmete einmal tief ein.
Erni sah auf Annas Brustkorb, der sich für Sekunden nicht mehr hob und senkte.
Einmal noch atmete sie, dann blieb es ruhig.
Erni legte ihre Hand auf Annas Brustkorb. Sie fühlte das Herz noch ganz langsam schlagen. Einmal, zweimal, dreimal. Dann war es regungslos.
Annas Weg war zu Ende.
Anna
Sie hätte es nicht geschafft, neben Stella zu gehen. Das konnte sie ihr nicht antun. Nicht ihrem kleinen Sternchen.
Erni hatte das richtige getan, in dem sie Stella fortgeschickt hatte. Dafür war ihr Anna dankbar.
"Auf Wiedersehen, Erni", sagte sie und blickte auf diese liebenswerte, ruhige Frau, die sie begleitet hatte. Bis zur Grenze war Erni dabei gewesen, den Rest musste Anna alleine gehen.
Es war für sie eigenartig, so auf ihren Körper zu blicken. Barfuß und mit einem weißen langen Nachthemd bekleidet, stand sie neben dem Bett. Nach Tagen war endlich der letzte Faden durchtrennt, der sie noch mit ihrem Körper verbunden hatte.
Sie hatte alles gesehen, alles mitbekommen, aber ihr Körper war bereits zu schwach gewesen, um noch zu reagieren. Jetzt war er leer. Nur eine Hülle, die sie zurückließ.
Sie drehte sich um und ging nach unten. Schritt für Schritt.
Stella saß in der Küche. Vor ihr stand eine Tasse Tee, der heiß dampfte.
Anna stellte sich hinter sie und legte eine Hand auf ihre Schulter. "Auf Wiedersehen, Stella, mein Sternchen", sagte sie und lächelte. Dann ging sie durch die Tür in den Garten.
Die Sonne schien. Heller und wärmer, als es je möglich schien. Die Vögel zwitscherten, der Wind säuselte durch die Baumkrone des Nussbaumes. Die Blumen blühten und dufteten in unglaublich wohltuenden Nuancen.
Und in all dieser Herrlichkeit stand Justus und sah ihr entgegen.
"Willkommen zu Hause, Schwesterchen", sagte er und umarmte Anna.
Sie drückte sich an ihn, schloss die Augen, atmete tief ein.
"Du hast es geschafft."
Anna nickte. "Wenn ich gewusst hätte, dass Sterben so leicht und schön ist, dann hätte ich mich nicht so davor gefürchtet."
Justus lachte. Lachte laut und hell. Der Wind trug das Echo fort, über den Bach, hinüber zur Wiese.
"Komm mit, Schwesterchen. Gehen wir. Ab hier werde ich dich begleiten."
Er nahm ihre Hand und ging mit ihr los. Schritt für Schritt durch den Garten bis hin zum Bach. Sie stiegen auf die Steine und überquerten das Wasser, beide barfuß und leichtfüßig.
Das Gras stand hoch. So hoch, dass Anna mit geöffneten Fingern durch die Grashalme greifen konnte, ohne sich bücken zu müssen. Sie fühlte die Blütenköpfe und atmete tief ein. Es roch intensiv, frisch und lebendig.
"Das ist der Duft der Ewigkeit", sagte Justus.
Sie gingen weiter, immer weiter, dann sah Anna schemenhafte Schatten in der Ferne. Sie blieb stehen. Erstaunt und von Freude erfüllt.
"Wir sind gleich da. Sie warten schon." Er grinste. Das blonde Haar hing zerzaust über seine Augen, die blauen Augen blitzten.
Anna weinte. Weinte vor Freude und ging weiter. Immer schneller und schneller. Sie lachte.
Ja, sie hatte es geschafft. Sie war zuhause.
Epilog
"Der Mensch ist erst wirklich tot,
wenn niemand mehr an ihn denkt."
Bertold Brecht
Das stand auf Annas
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