Lazyboy
Anverwandtem zurücklässt. Es spricht nicht für mich, fürchte ich. Vermutlich ruft er die Polizei und lässt mich verhaften.
Ich denke daran, dass ich keine Zeit zu verlieren habe, ein Mann mit leeren Taschen.
Ich sitze im Zug, Großraumwagen, in Stuttgart bin ich umgestiegen in den ICE, und schaue aus dem Fenster. Glücklicherweise bleibt der Platz neben mir frei. Es ist ein Dienstagvormittag, der Zug ist nicht besonders voll. Gerade gleitet ein Hopfenfeld an mir vorbei, die hohen Stangen sausen durch mein Blickfeld wie ein Hochgeschwindigkeitsmikado. In der Ferne wird eine blaugrüne Hügelkette durch das Bild geschoben. Ich ziehe mein Mobiltelefon aus der Tasche und betrachte das Display, drei Balken Empfang, dann vier. Ich überlege, jemanden anzurufen, einfach um zu überprüfen, dass alles normal ist, dass ich normal bin, dass alles in Ordnung ist, aber mir fällt niemand ein. Ein See zieht vorbei und ich denke an Monika. Es muss im Winter vor vier, fünf Jahren gewesen sein. Wir waren Schlittschuhlaufen auf einem zugefrorenen Teich am Rande der Stadt, ein grauer Tag mit verhangenem Himmel, schnarrende Krähen in den kahlen Ästen am Waldrand, kein Mensch außer uns auf dem Eis. Wir lachten und ich stakste hinter den roten Flecken auf Monikas Wangen her, den Atemwolken, die sie wie eine hübsche Lok hinter sich herzog. Immer wieder zog ich mich an ihr hoch, wenn ich gefallen war. Dann begann es zu regnen. Erst war es nur ein leichter Nieselregen, der sich gut aushalten, weglächeln ließ. Dann aber steigerte er sich zunehmend, bis es schien, der Himmel lasse alles regnen, was er an Wasser zu bieten hatte, er goss seine gesammelten himmlischen Wasser über unseren Köpfen aus. Und wir liefen immer weiter und lächelten blöd vor uns hin, irgendwann waren wir völlig durchweicht, aber keiner von uns spürte die Kälte. Wenn ich hinfiel, wenn ich in die Pfützen, die sich längst auf dem Eis gebildet hatten, hineinklatschte, hielt mir Monika lachend einen ihrer durchweichten Wildlederfäustlinge hin und zog mich hoch.
Der ICE fährt über eine Hochbrücke oberhalb eines bewaldeten Tales. In der Ferne kann ich ein Atomkraftwerk sehen. Majestätisch, fast anmutig steht es da, schmiegt sich mit seinen Schloten und Kühltürmen in die Landschaft.
In Kassel-Wilhelmshöhe setzt sich eine ältere Dame, die nach Geschäftsfrau aussieht, neben mich. Erst blättert sie eine Weile in einer Zeitschrift, dann beginnt sie, mich ausführlich von der Seite her zu mustern.
»Na?«, fragt sie schließlich. »Wo kommen Sie her?«
»Aus Beek«, sage ich.
»Aha«, sagt sie. »Wo liegt das denn?«
»Jenseits der Einöde«, sage ich, »erreichbar nur durch einen Kleiderschrank.«
»Interessant«, sagt sie und betrachtet so spöttisch wie irritiert mein Gesicht. Dann aber zieht sie es doch vor, wieder in ihrer Zeitschrift zu blättern. Ich entschuldige mich bei ihr, damit sie den Weg freigibt. Ich will etwas Zeit auf der Toilette verbringen, ich muss eigentlich gar nicht.
Als ich die Tür öffne, als ich die Klinke in der Hand halte, frage ich mich, ob es jetzt wieder losgehen wird, dass mich wildfremde Türen von meinem eigentlichen Weg abschneiden, trennen, ausschließen. Ich öffne die Tür, ich halte sie in der Hand, ich mache den Schritt.
Im angelaufenen Spiegel betrachte ich mein müdes, mitgenommenes Gesicht. Ich bin ganz Zuggeräusche.
Am Hamburger Hauptbahnhof steige ich aus. Ich werde vom großstädtischen Treiben in der Bahnhofshalle umspült und auf den Kopf gestellt, von innen nach außen gekrempelt. Kurze Zeit bin ich ohne Orientierung. Dann trete ich aus dem Bahnhofsgebäude und gewinne etwas Weite, lasse den Blick Richtung Innenalster schweifen. Auch in meiner Heimatstadt ist Herbst, die Bäume am Ufer der Alster gelblich verfärbt. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, Hochsommer, Beeker Verhältnisse. Der Hamburger Wind bläst mir ins Gesicht. Darauf kann man sich immer verlassen. Man kommt an, und er ist schon da, der alte Begleiter. Ich beschließe, nicht mit der S-Bahn zum Krankenhaus zu fahren, sondern den langen Weg durch die Stadt zu Fuß zurückzulegen, mich vom Wind in Monikas Richtung treiben zu lassen.
Irgendwann komme ich auf den Gedanken, dass es besser sein könnte, erst einmal in meiner Wohnung vorbeizuschauen, nach dem Rechten zu sehen. Ich könnte eine Dusche vertragen, ein paar neue Kleidungsstücke stünden mir sicherlich auch nicht schlecht zu Gesicht. Ich schwenke also ab, nehme
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