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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Zwischentöne, wenn sie von ihm oder er von ihr sprach, aber er vergötterte sie aus ungefährlicher Distanz heraus, und es war rührend mitanzusehen, wie er alle Prinzipien der Gerechtigkeit und Gleichbehandlung mit Füßen trat, wenn es um Lea ging. Sie war, wie gesagt, ein Star, eine veritable vedette .
    Auch mit der Geige zeichnete sich bald ab, daß sie ein Star werden könnte. In den ersten Jahren der Arbeit mit Marie gelang Lea einfach alles. Die Töne wurden von Woche zu Woche reiner und sicherer, das Vibrato verlor das anfängliche Flattern und wurde regelmäßiger, temperierter. Daß jemand nach so kurzer Zeit in allen Lagen zu Hause war, hatte Marie in den vielen Jahren des Unterrichtens noch nie erlebt, und Lea konnte Tränen lachen, wenn ich sie daran erinnerte, wie sehr es sie beschäftigt hatte, daß Loyola de Colón so genau wußte, wo sie beim Lagenwechsel mit dem Gleiten der Hand Halt machen mußte. Doppelgriffe, der Alptraum aller Anfänger, fielen natürlich auch Lea schwer. Aber rastloses Üben gab ihr bald die nötige Sicherheit, und je schwieriger etwas war, desto mehr wurde es zur Obsession; es war ganz ähnlich wie mit mir und dem Schach.»
    Van Vliet ging auf die Toilette, und als er zurückkam, bestellten wir etwas zu essen. Er bestellte mechanisch dasselbe wie ich, er war nicht bei der Sache. Wie vorhin, als er allein am Wasser gewesen war, hatte ihn die Erinnerung in der Zwischenzeit gefangen genommen, eine Erinnerung, die weh tat.
    »Noten«, sagte er, »Lea las sie, als wären sie die angeborenen Symbole ihres Geistes. Es war mir unerträglich, zu diesem Teil von ihr, der sich immer mehr als der wichtigste entpuppte, keinen Zugang zu haben. Ich mußte sie auch lesen können. Ich fragte, ob ich ihr beim Spielen über die Schulter blicken dürfe. Sie sagte nichts und begann zu spielen. Nach wenigen Takten brach sie ab. ›Es … es geht nicht, Papa‹, sagte sie. Eine hilflose Gereiztheit lag in den Worten, sie nahm es mir übel, daß ich sie in die Lage gebracht hatte, das sagen zu müssen. Ich besorgte ein zweites Exemplar der Noten und fragte, ob ich mich in der Ecke in den Sessel setzen dürfe, während sie spielte. Sie sagte nichts und sah zu Boden. Mit Marie ist doch auch jemand im Raum, wenn sie dort spielt, dachte ich. Aber eben: Marie , und mit Marie war es anders als mit mir; mit Marie war alles anders als mit mir.
    Ich ging aus dem Zimmer und schloß die Tür. Es dauerte eine ganze Weile, bis Lea zu spielen begann. Ich verließ das Haus und ging zu Krompholz, wo ich ein Buch über Noten für Anfänger kaufte. Katharina Walther sah mich mit ihrem klugen, verschwiegenen Blick an. ›Keine Hexerei‹, sagte sie, als ich zu blättern begann. ›Lesen Sie es durch, und dann lesen Sie die Noten mit, wenn sie spielt. Im Nebenzimmer, vielleicht. Sie braucht es ja nicht zu sehen.‹ Unglaublich. Sie schien in mir – in uns – wie in einem Buch lesen zu können.«
    Van Vliet schenkte ein und leerte sein Glas in einem Zug, als sei es Wasser. »Mein Gott, warum habe ich nicht öfter mit ihr geredet! Und warum habe ich später nicht auf sie gehört, als sie mich warnte!«
    Er holte einen Kugelschreiber hervor, faltete die Papierserviette auf, zog fünf Linien und setzte Noten darauf. »Hier«, sagte er, »das ist der Anfang der Partita in E-Dur von Bach. Die Töne, die Loyola de Colón damals im Bahnhof spielte.« Er schluckte. »Und auch die Töne, die Lea als letzte spielte, bevor sie in der … der Verstörung versank.«
    Langsam schloß sich seine Faust um die Serviette und zerdrückte die schicksalhaften Noten. Ich füllte sein Glas nach. Er trank, und nach einer Weile sprach er weiter, ruhig und klar.
    »Ich habe es gemacht, wie Katharina Walther gesagt hatte: Ich habe im Nebenzimmer die Noten verfolgt, wenn Lea spielte. Doch sie blieben mir merkwürdig fremd, und es dauerte eine Weile, bis ich verstand, warum: Ich konnte die dazugehörigen Töne nicht erzeugen, die Noten blieben für mich selbst ohne Folgen, Symbole, mit denen ich nichts machen konnte und die deshalb mit mir nichts zu tun hatten. Und so blieb mir dieser Teil von Leas Geist trotz aller Anstrengung verschlossen.
    Eines Tages, als sie in der Schule war, ging ich in ihr Zimmer, nahm die Geige aus dem Kasten, klemmte sie zwischen Schulter und Kinn, brachte die Finger in Stellung, wie ich es beobachtet hatte, und machte mit dem Bogen den ersten Strich. Natürlich war es ein kläglicher Ton, der da zustande kam, kaum mehr

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