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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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als ein Kratzen. Doch das war es nicht, was mich zusammenzucken ließ. Es war etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte: ein heftiger Anfall von schlechtem Gewissen, eine Art unsichtbarer Krampf und zugleich lähmend, begleitet von einem Gefühl der Kraftlosigkeit. Rasch und mit fahrigen Bewegungen legte ich die Geige zurück in den Kasten und vergewisserte mich, daß alles war wie vorher. Dann setzte ich mich in meinem Zimmer in den Sessel und wartete, bis das Herzklopfen abnahm. Draußen setzte die frühe Dämmerung ein. Es war dunkel, als ich endlich verstand: Es war nicht das gewöhnliche schlechte Gewissen gewesen, das man hat, wenn man in fremden Sachen wühlt. Es war um etwas viel Wichtigeres und Gefährlicheres gegangen: Indem ich das Geigenspiel an mir nachzubilden versuchte, hatte ich eine unsichtbare Linie überschritten, die Leas Leben von dem meinen trennte und trennen mußte, damit es ganz das ihre sein konnte. Ein Hauch dieses Gefühls, dachte ich jetzt, hatte damals auch in der Gereiztheit gelegen, mit der Lea mir erklärte, daß es nicht ging, wenn ich ihr beim Spielen über die Schulter blickte. Und nun kam mir auch der Widerstand in den Sinn, den mir das achtjährige Mädchen nach Loyolas Spiel entgegengesetzt hatte, damals im Bahnhof, als ich sie wie gewohnt an mich ziehen wollte.
    Und Marie? dachte ich. Da gab es diese Linie nicht. Im Gegenteil, Lea versuchte in ihrem Spiel und auch sonst zu sein wie Marie. Gab es eine andere Linie, die ich bloß nicht sah?«
    Van Vliet blickte mich an. Es war nicht klar, ob er auf eine Antwort hoffte – auf die Einsicht eines Unbeteiligten vielleicht –, oder ob er meinen Blick nur als einer suchte, der in seiner Unsicherheit und Not erkannt und angenommen werden wollte. Ich berührte ihn am Arm – wer weiß, warum, wer weiß, ob es eine passende Geste war, eine Geste, die seiner Zerbrechlichkeit zu entsprechen vermochte. Er hatte die brennende Zigarette im Aschenbecher vergessen und steckte eine neue an. Ich blickte an ihm vorbei zu dem großen Wandspiegel, der uns beide zeigte. Zwei Analphabeten, was Nähe und Ferne angeht, dachte ich, zwei Analphabeten der Vertrautheit und Fremdheit.
    »Als Lea an jenem Abend zur Tür hereinkam«, fuhr Van Vliet fort, »stand sie neu vor mir: als eine, die nicht nur etwas konnte , was ich nie können würde, sondern eine, die etwas war , was ich nie sein würde: eine Musikerin, deren Leben immer mehr aus Noten und Tönen bestand. ›Was ist denn, was hast du?‹ fragte sie. ›Nichts‹, sagte ich, ›es ist nichts. Soll ich etwas kochen?‹ Doch sie war bereits am Kühlschrank, biß in eine kalte Wurst und schnappte sich ein Stück Brot. ›Danke, aber ich möchte lieber noch etwas üben, Marie ist da mit einer Stelle noch nicht zufrieden.‹ Sie verschwand in ihrem Zimmer und schloß die Tür.
    Eine einzige Sache konnte ich beitragen: Ich erklärte ihr die Physik der Flageolettöne. Sie war süchtig nach ihrem gläsernen Klang und dem Versuch, sie bei der ersten Berührung zu treffen.
    An technischen Problemen gab es nur ein einziges, mit dem sie bis zum Schluß zu kämpfen hatte: Triller. Sie hatten oft nicht die seidene Leichtigkeit und vor allem nicht die metronomische Regelmäßigkeit, die sie hätten haben sollen. Besonders wenn sie lange dauerten, schlichen sich Ermüdung und forcierte, trotzig klingende Schübe ein, die den Eindruck des Bemühten und der Überforderung hinterließen. Wütend massierte Lea die verkrampften Finger, hielt sie in warmes Wasser und knetete beim Fernsehen zur Stärkung einen Ball.
    Aber sie war glücklich, meine Tochter. Verliebt in die Geige, verliebt in die Musik, verliebt in ihre Begabung und, ja, verliebt in Marie.
    ›Amoureuse?‹ Diedunkle Hand des Maghrebiners mit dem silbernen Stift hielt abrupt inne. ›Ouais‹ , sagte ich und tat alles, um das Wort so ordinär klingen zu lassen, wie es meiner Vorstellung nach bei einem Delinquenten klänge, der den Kommissar beim Verhör gnadenlos auflaufen läßt. Sogar die Beine schlug ich übereinander wie der rotzige Ganove, der das letzte, winzige Quentchen Freiheit genießt, das darin liegt, dem Kommissar nicht ein einziges Wort zu schenken.
    ›Vous voulez dire …‹
    ›Non‹ , gab ich zurück, und es war mehr ein Japsen und Schnappen als eine artikulierte Verneinung. Der Arzt ließ die Mine vor- und zurückschnellen, das Geräusch war laut, lauter als das Summen und Rauschen des Ventilators. Er brauchte Zeit, um seinen Ärger unter

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