Lea
Abendessen wieder.
8
ICH LAG AUF DEM BETT. Ich sah Van Vliet im Gegenlicht. Ich sah ihn lachen. Ich sah ihn am Hemdkragen reißen. Ich sah ihn mit Fernglas am Zaun der Klinik. Wann war das letzte Mal gewesen, daß mich jemand so berührt hatte?
Ich dachte an Cape Cod und Susan, die Frau vor Joanne. »Adrian, is there anything that can upset you? Anything at all ? Are you ever shaken ?« Ich arbeitete damals als Unfallchirurg, die Hände von morgens bis abends in Wunden und an zerschmetterten Gliedmaßen. Man dürfe das nicht an sich herankommen lassen, sagte ich; sonst sei man nicht mehr gut. » Yes, but it seems to leave your soul untouched.« Am Morgen nach diesen Worten stand ich früh auf wie für eine Operation und lief in der Morgendämmerung den Strand entlang. In der Nacht darauf schlief ich auf dem Sofa. Man kann nicht neben jemandem liegen, der einen für ein Monster hält. Am nächsten Morgen reisten wir ab. »Hi« , sagten wir beim Abschied und hoben die Hand. In der Erinnerung klang das Wort hell und grausam, als ob man ein Skalpell zum Klingen gebracht hätte.
Ich schlief ein. Als ich aufwachte, schlug es vom Kirchturm sieben. Es war dunkel. Leslie hatte auf meinem Mobiltelefon angerufen. Ich hätte die Uhr in ihrem Bad liegenlassen.
»Ich weiß«, sagte ich, »aber eigentlich habe ich sie gar nicht vermißt.«
»Dir geht’s richtig gut, nicht?«
»Keine Ahnung«, sagte ich, »keine Ahnung, wie’s mir geht.«
»Irgendwas ist mit dir geschehen; oder ist dabei zu geschehen.«
»Wie war’s eigentlich damals im Internat? Für dich, meine ich. Wie war’s für dich?«
»Mon Dieu , was soll ich denn jetzt am Telefon dazu sagen? Ich weiß nicht … manchmal denke ich, ich bin mit dem Jungen jetzt wieder allein, weil … weil …«
»Weil wir keine richtige Familie waren? Weil du es da nicht lernen konntest? Ist es das, was du denkst?«
»Ich weiß nicht, so klingt es nicht richtig. Ach, Adrian, ich weiß es doch auch nicht. So schlecht war’s gar nicht im Internat. Man wurde selbständig. Nur abends manchmal … ach, merde .«
»Hättest du gern ein Instrument gespielt?«
»Du stellst heute Fragen! Keine Ahnung, ich glaube nicht, wir sind doch nicht musikalisch, oder?«
Ich lachte. »Auf Wiederhören, Les. Laß uns wieder telefonieren.«
»Ja, das machen wir. Adieu, Papa.«
Van Vliet wartete im leeren Speisesaal des Hotels. Er hatte eine Karaffe Rotwein vor sich stehen und eine Flasche Mineralwasser. Er hatte nur Wasser getrunken.
Ich erzählte von dem Gespräch mit Leslie.
»Internat«, sagte er, »Lea und Internat. Das wäre … das wäre undenkbar gewesen.« Jetzt goß er Rotwein ein und trank. »Obwohl … der Maghrebiner … vielleicht wäre sie dann nicht hier gelandet. Was wissen wir eigentlich über diese Dinge? Merde , was wissen wir darüber?«
Jetzt bestellte ich auch Rotwein. Er grinste.
»Céciles Bruder ist Legastheniker und hat auch mit dem Rechnen Mühe. Versteht die Idee der Menge nicht, verrückt, aber er versteht sie einfach nicht. Akalkulie nennt man das. Cécile vermochte ihre Angst, die Schwäche könnte sich auf Lea vererbt haben, nur dadurch zu bekämpfen, daß sie ihr das Lesen und Rechnen bereits mit vier beibrachte. So kam es, daß Lea mit sechs Agathe Christie las und beim Kopfrechnen alle ausstach. Ich hatte meine Zweifel, ob wir es richtig machten, war aber auch stolz auf meine Tochter, die mit solcher Leichtigkeit lernte. Die Jahre der Primarschule waren ein Spaziergang für sie, es gab nie einen Konflikt zwischen Hausaufgaben und Üben. Ich vermute, daß Caroline, die neben ihr saß, beim Rechnen abschrieb, was das Zeug hielt. Ich vermute auch, daß ihre Eltern das wußten, und daß die Häme, mit der sie beobachteten, wie Lea später ins Stolpern geriet und zu taumeln begann, darin ihren Ursprung hatte.
Lea war bald der hofierte, aber auch neidisch beäugte Star der Schule. Da sie nach dem Unterricht oft direkt zu Marie fuhr, sahen die anderen sie viel mit der Geige, und sie wurden auch dadurch an Leas zweites Leben erinnert, daß sie sich beim Turnen weigerte, irgend etwas zu tun, das ihre Hände in Gefahr bringen konnte. Mit Erika Zaugg, der Lehrerin, die sie einem vernichtenden Vergleich mit Marie unterzog, kam sie überhaupt nicht gut aus, die Frau machte keinen Hehl daraus, daß sie Lea für zickig und schlichtweg hysterisch hielt. Ganz anders der cholerische Lehrer, der in ihren Händen zu Wachs wurde. Ich horchte immer auf alarmierende
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