Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
Vom Netzwerk:
mit der Harke eine Furche entlangfuhr; einmal auch, wie sie still am Fenster ihres Zimmers stand und ins Land hinausblickte wie jemand, der sich ganz und gar fremd fühlt auf diesem Planeten.
    Das schlimmste Bild aber war jenes, in dem sie die Kuppe des rechten, nach hinten gebogenen Zeigefingers mit dem linken Daumen entlangfuhr, es war eine sanfte, kreisende Bewegung, die sie hin und wieder unterbrach, um den Finger zu den Lippen zu führen und ihn mit der Zungenspitze zu benetzen. Wie oft hatte ich sie diese Bewegung früher vollführen sehen, wenn sie an einem Stück mit viel Pizzicato arbeitete! Ihr Blick war stets sehr konzentriert gewesen, und selbst wenn sie beim Befeuchten die Augen schloß, spürte man die Aufmerksamkeit hinter den geschlossenen Lidern, die Aufmerksamkeit eines Mädchens, das ganz bei der Sache war und ganz in ihrem Handwerk aufging. Wie anders, wie schrecklich anders war es jetzt! Ich hatte sie lange suchen müssen und schließlich auf einer Bank hinter aufgestapeltem Brennholz entdeckt. Sie saß dort mit gebeugtem Rücken und fuhr sich über die Fingerkuppe wie früher. Ihr Blick war verloren, er kam von nirgendwo und ging nach nirgendwo, sie sah aus, als erinnere sie sich an die Bewegung und vielleicht auch an die vom Saitenzupfen wunde Stelle, habe aber vergessen, welche Bewandtnis es damit hatte, und so wurde die Bewegung nach einer Zeit der mechanischen Wiederholung immer langsamer und zielloser, um schließlich ganz zu verebben.
    Das Bild von Leas verlorener Bewegung verfolgte mich danach bei allem, was ich tat. Immerfort mußte ich an dieses Bruchstück aus ihrem zerbrochenen Leben denken. Ich dachte: Wo ist dein Stolz geblieben, mein Kind? Deine Selbstsicherheit, die an Blasiertheit grenzen konnte? Die Selbstherrlichkeit deines gnadenlosen Übens, das mich kaum mehr schlafen ließ? Die aberwitzige Sehnsucht, den dritten Schritt vor dem ersten und zweiten zu tun? Der verrückte, selbst vor Marie verborgen gehaltene Vorsatz, die Capricci von Paganini noch vor dem zwanzigsten Geburtstag zu spielen? Wo ist all das geblieben? Wo? Warum richtest du dich nicht auf hinter dem verdammten Brennholz, streckst den Rücken, ziehst die Augenbrauen hoch in kritischem Erstaunen über die ungenügenden Leistungen der anderen und zeigst ihnen, was ein Ton ist, ein richtiger Ton? Damals, am ersten Abend bei Marie, bin ich erschrocken über den anmaßenden Beiklang, den deine Bitte, ja Forderung des Vorspielens hatte, und auch später fror ich manchmal, wenn du die anderen deine Überlegenheit spüren ließest, deine kühle Erhabenheit, die nichts anderes war als die Erschöpfung nach dem Erreichen der selbstgesteckten, viel zu hohen Ziele. Ich habe es dir nie gesagt: Auch mich hat sie manchmal verletzt, deine Ungeduld der Vollkommenen, dein vorschnelles Kopfschütteln, deine Langeweile, wenn du auf die anderen warten mußtest, die so viel langsamer waren. Wenn es schlimm kam, saß ich dir nachher im Traum beim Schach gegenüber und ließ dich gnadenlos in die Falle laufen, nur um nachher mit schlechtem Gewissen aufzuwachen. Es ist gut und der weisen Voraussicht unserer Gefühle zu verdanken, daß du in Wirklichkeit nie eine Schachfigur angerührt hast. Und trotzdem: Nichts wünschte ich mir mehr, als daß sich deine Züge wieder zu dem Gesicht meiner selbstsicheren, ungeduldigen, zum Fürchten anspruchsvollen Tochter zusammenfügten. Tausendmal würde ich jeden, auch den verletzendsten Ausdruck dem verlorenen Blick hinter dem verdammten Brennholz vorziehen.
    Elle n’a pas pu avoir de jeunesse , sagte der Maghrebiner, und aus seinem schwarzen Blick kam mir ein Vorwurf entgegen, der nicht weniger finster war als eine Mordanklage . Was soll das heißen? Was weiß dieser Mann im weißen Kittel denn schon von dir? Hat er gesehen, wie du jeweils mit fieberheißen Wangen von Marie kamst? Wie du in der Küche im Stehen aßest, um schnell weiterüben zu können? Hat er die roten Flecke an deinem Hals gesehen, als dir beim ersten Auftritt in der Schule eine Welle von tosendem Beifall entgegenflutete? War er in Genf dabei, als die Leute vor Begeisterung stampften und pfiffen? Du warst glücklich, das kann ich beschwören, auch wenn Caroline und ihre Eltern von Jahr zu Jahr bedenklicher dreinblickten, wenn von deinem Erfolg die Rede war.
    Sie durfte nicht jung sein. Es war ein regengehetzter Tag, als der Satz fiel, und ich war nachher naß bis auf die Haut, weil ich am Strand stundenlang dieselbe Blechbüchse

Weitere Kostenlose Bücher