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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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vor mich her gekickt hatte, um an den Worten nicht zu ersticken. Jahr für Jahr hatte ich dich vergeblich zu überreden versucht, wenigstens am Tag des Zwiebelmarkts einmal zum Karussell zu gehen. ›Ich will lieber üben‹, sagtest du. Ich will lieber üben. Auch jetzt höre ich dich diese Worte sagen, und auch jetzt höre ich die Ungeduld und den leisen Vorwurf in der Stimme, die mir bedeuten sollten, daß ich meine ungewöhnliche Tochter doch kennen und es eigentlich besser wissen müßte. Ich will lieber üben. Wort für Wort möchte ich diesen Satz in den dunklen Blick des Maghrebiners hineinstoßen, um den Vorwurf, den ungeheuerlichen Vorwurf, daß ich dir die Jugend gestohlen und damit den Weg deiner Krankheit vorgezeichnet hätte, in seinen Augen immer weiter zurückzudrängen, immer weiter, bis er ganz hinten, dort, wo die Gedanken entstehen, in Bedrängnis geriete und unter dem Gewicht der Tatsachen, die nur ich allein kenne, schließlich erlöschen müßte.
    Das Karussell. Auch die Episode mit dem Karussell macht nicht falsch, was ich sage, nein, auch sie belastet mich nicht. Eines Tages, es war Frühling und du warst schon dreizehn, waren sie wieder da, die Leute mit dem Karussell, und da wolltest du plötzlich. Es ging darum, wer nach den vielen silbernen Ringen den goldenen erhaschen konnte, wenn er an dem Gestell vorbeifuhr, in dem die Ringe darauf warteten, nach vorne zu gleiten und gezogen zu werden. Du warst bei weitem die Älteste, und eine verschämte Sekunde lang dachte ich, daß es ein bißchen lächerlich aussah, wie da eine bereits erwachsen wirkende junge Frau inmitten von Jahrmarktsmusik und Kinderjauchzen einem kindlichen Vergnügen aus einer versäumten Vergangenheit nachjagte. Auch jetzt hattest du rote Flecke am Hals, und der Blick war voller Hoffnung und Erwartung wie bei einer Fünfjährigen. Und der goldene Ring kam! Blitzschnell zogst du ihn, und als das Karussell kurz darauf zum Stehen kam, ranntest du mir entgegen, die Augen voller Tränen. Ich versuchte sie zu entziffern, diese Tränen, und konnte mich nicht entscheiden, ob es Tränen der Freude über den goldenen Ring waren oder Tränen der Trauer über versäumtes kindliches Glück. Du wischtest dir die vieldeutigen Tränen ab und legtest den Ring auf die flache Hand. Du wußtest, daß du ihn dem Mann mit dem Cowboyhut hättest zurückgeben sollen. Aber das scherte dich nicht. ›Ich werde ihn Marie schenken‹, sagtest du und zogst mich mit dir fort. Am Ende hat ihn dir Marie zurückgeschickt. Es war das Grausamste, was sie tun konnte.«
    Ein Rudel Touristen mit Fotoapparaten kam vorbei, als wir einstiegen. Van Vliet schnaubte verächtlich.
    »Van Gogh. Man kann hier sein Zimmer sehen. Postumer Voyeurismus. Als reichte es nicht, daß er in diesem Loch wohnen und sich das Ohr abschneiden mußte. Als reichte das nicht!«
    Er faßte sich mit beiden Händen an den Hemdkragen, riß ihn auf und zog ihn zu, daß der Hals weiß wurde, auf und zu, immer wieder. Ich hatte bedauert, daß Tom Courtenay dem Direktor nicht die Fresse polierte. Immer wieder hatte ich es bedauert, von der Mittags- bis zur Spätvorstellung. Ich war richtig sauer auf ihn, daß er das nicht gebracht hatte, richtig sauer.
    Wir hielten vor Van Vliets Hotel. Er blieb sitzen. Er war mit den Gedanken noch in der Klinik.
    »Es fing ganz unauffällig an. Hier ein unpassendes Wort, dort ein verrutschter Satz, eine merkwürdige Logik. Große Abstände dazwischen, so daß man es wieder vergaß. Stutzig gemacht haben mich Dinge wie: ›Marie litt unter Lampenfieber, sie war ja so erfolgreich‹, ›Die Zaugg will die Kreide fürs Reck an meinen Händen sehen, sie glaubt dem Kolophonium nicht‹, und einmal, da fuhr ich so zusammen, daß sie es merkte: ›Als Musiker war Niccolò der beste Geiger, wegen dieser Wahnsinnsspanne‹. Sie nannte Paganini stets beim Vornamen, wie einen guten Freund.
    Dann wieder wochenlang nichts Auffälliges. Aber ich fing an aufzuschreiben. Das Notizbuch versteckte ich ganz unten im Schreibtisch, wie vor mir selbst. Ich hatte Angst, eine Wahnsinnsangst. Aber erst zehn Jahre später fing ich an, in der Verwandtschaft von Cécile nach Leuten zu forschen, denen die Dinge auch verrutscht waren. Nichts Klares, alles so lange her, sagten sie.«
    Ich sagte, ich wolle in mein Hotel, mich ausruhen.
    »Aber Sie kommen wieder?« Es war ein ängstlicher Blick, der Blick eines Jungen, der sich vor der Dunkelheit fürchtet.
    Ja, sagte ich, ich käme zum

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