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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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den Kopf. Er zog an dem Bauern vorbei. Der junge Mann, der unseren stummen Austausch beobachtet hatte, fixierte mich. Es ist besser, man tut das mit mir nicht; man kann nur verlieren.
    Er verlor die Partie nach fünf Zügen, die ich dem alten Mann diktierte. Der Alte wäre gerne etwas mit mir trinken gegangen, aber ich war auf der Suche nach meinem Leben und zog weiter über die Kirchenfeldbrücke zu meinem Gymnasium. Die Schüler, die ein Vierteljahrhundert jünger waren als ich, strömten in den Unterricht. Verwirrt stellte ich fest, daß ich mich ausgeschlossen fühlte, als sich die Türen zu den Klassenzimmern schlossen. Wo ich damals doch den Rekord im Schwänzen hielt.
    Ich betrat die leere Aula, die nach der gleichen Wichse roch wie damals. Wie viele Simultanturniere hatte ich hier drin gespielt? Ich wußte es nicht mehr. Nur drei Partien hatte ich insgesamt verloren. ›Immer gegen Mädchen‹, sagten sie grinsend, ›und immer mit kurzen Röcken.‹
    Am meisten Spaß machte es, gegen Beat Käser zu spielen, Hans Lüthis Intimfeind, bei dem ich Geographie hatte. Käser war ein phantasieloses Individuum mit einem riesigen Unterkiefer, über dem sich die Haut glänzend spannte, und er war für sein Gefühl vor allem das eine: Generalstabsoffizier. Am liebsten hätte er in der Uniform mit Dolch unterrichtet. Geographie bestand für ihn darin, alle Schweizer Pässe auswendig zu kennen. Er rief mich öfter auf als andere: ›Vliet!‹ Darauf reagierte ich grundsätzlich nicht. Natürlich: Wenn einer Käser heißt, ist es bitter, seinen Gegner Van Vliet nennen zu müssen. Wenn er es schließlich tat, sagte ich, der Susten führe unter der Aare durch, oder der Simplon verbinde Kandersteg mit Kandersteg. Auch er verlor jeden Wettkampf der Blicke, und es war ein Fest zu beobachten, wie er jedesmal einfach nicht glauben konnte, daß er schon wieder verloren hatte. Er haßte mich, der Mann, und er haßte mich, glaube ich, besonders wegen meines Rufs, der frechste Hund und der verschlagenste Teufel der Schule zu sein, dem man leider bescheinigen müsse, daß er heller sei als mancher Lehrer. Wenn ich beim Turnier an Käsers Brett vorbeikam, blickte ich ihn nicht an, hob theatralisch die Brauen und zog besonders schnell. Er hat versucht, das Gutachten des Arztes anzufechten, das mir den Militärdienst ersparte. Er hielt die Symptome für simuliert. Was sie auch waren.
    Später an diesem Morgen fuhr ich zu Leas Schule. Es war Pause, als ich ankam. Statt, wie ich es vorgehabt hatte, zu ihr zu gehen und ihr zu erklären, warum ich das Haus so früh verlassen hatte, blieb ich in einiger Entfernung stehen und sah ihr zu. Sie stand bei den Fahrrädern und rieb mit der einen Hand gedankenverloren an einer Stange. Heute will es mir vorkommen, als sei dieses ziellose Reiben ein unauffälliger Vorbote der ziellosen Bewegung gewesen, die ich an ihr sah, als ich sie im Hospiz von Saint-Rémy hinter dem Brennholz entdeckte.
    Jetzt drehte sie sich um und ging zu einer Gruppe von Schülern, die einem Mädchen mit einem Schopf rabenschwarzen Haars zuhörten. Das Mädchen sah aus, als liebte es Pferde, Lagerfeuer und laute Gitarrenmusik. Eine Jeanne d’Arc im Körper eines kalifornischen Collegegirls. Klara Kalbermatten aus Saas Fee. Sie konnte ihr Mountainbike mit einem Finger stemmen, und auch sonst wirkte sie, als sei sie allem gewachsen. Doch sie hatte diesen einen Schwachpunkt: ihren Namen. Oder besser: den Haß auf ihren Namen. Sie wollte Lilli genannt werden, Lilli und sonst nichts, und wenn jemand sich nicht daran hielt, so nahm sie das als eine Kriegserklärung.
    Es gab einen grellen, unversöhnlichen Kontrast zwischen den beiden heranwachsenden Mädchen, der auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck kam: Hier Lillis sonnengegerbte, vor Gesundheit strotzende Haut; dort Leas alabasterner Teint, der sie leicht kränklich aussehen ließ. Hier Lillis sportliche Art, sich zu bewegen, die jeden Moment einen Hüftschwung erwarten ließ; dort Leas linkische Art zu stehen und zu gehen, die den Eindruck erwecken konnte, sie habe vergessen, wo sie ihre Glieder gelassen hatte. Hier Lillis gerader, stahlblauer Blick, bei dem die Lider stillstanden und der die Unversöhnlichkeit einer rechten Geraden hatte; dort Leas dunkler, verschleierter Blick, der aus dem Schatten ihrer langen Wimpern heraus wirkte. Hier die robuste, bronzene, gewöhnliche Schönheit einer surfenden Bergkönigin; dort die bleiche, adlige, zerbrechliche Schönheit einer am

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