Lea
Unrasiert fuhr ich durch menschenleere Straßen zum Bahnhof. Langsam ging ich die noch unbewegliche Rolltreppe von damals hinunter und versuchte mir vorzustellen, wie es gewesen war, ich zu sein, bevor die Violinmusik die Regie über mein Leben übernommen hatte. Kann man wissen, wie es früher war, wissend, wie es später kam? Kann man es wirklich wissen? Oder ist, was man bekommt, das Spätere, betäubt durch den krampfhaften Gedanken, es sei das Frühere?
Mit dem Aufzug fuhr ich zur Universität hinauf und ging ins Institut, das zu dieser frühen Stunde leer und still war. Ich sah die Post durch und rief die elektronischen Botschaften ab. All das galt einem, der ich war und doch auch nicht mehr war. Zwei eilige Anfragen beantwortete ich knapp, dann schloß ich das Büro ab. Die Titel vor meinem Namen an der Bürotür berührten mich heute morgen besonders lächerlich, geradezu affig. Draußen erwachte die Stadt. Verwirrt stellte ich fest, daß es mich ins Monbijou zog, das Quartier, wo ich in einer Mietskaserne aufgewachsen war. Das vergessene Leben, auf dessen Suche ich war, schien gar nicht mein berufliches Leben zu sein, sondern das Leben davor und dahinter.
Die Mietskaserne sah noch genau so aus wie damals. Dort oben, im dritten Stock, war mein erster Berufswunsch herangereift: Ich wollte Geldfälscher werden. Ich lag auf dem Bett und malte mir aus, was man dazu alles können mußte. Es hatte nichts damit zu tun, daß mein Urgroßvater ein betrügerischer holländischer Banker war, der in die Schweiz flüchtete. Das erfuhr ich erst viel später. Banknoten hatten mich schon als kleiner Junge fasziniert. Daß man im Geschäft für ein Stück farbiges Papier Pralinen bekam, fand ich unglaublich. Ich war maßlos erstaunt, daß man uns nicht nachlief und einsperrte, als wir mit den Pralinen hinausgingen. Ich fand es so unglaublich, daß ich es stets von neuem ausprobieren mußte. Ich begann, aus Mutters Geldschatulle Scheine zu stehlen. Es war verblüffend leicht und ungefährlich, denn sie reiste mit ihren modischen Schnittmustern durchs Land und war selten zu Hause, ebenso selten wie der Vater, der mit pharmazeutischen Produkten bei den Ärzten die Runde machte. Später ging ich in jeden Film, bei dem es ums Fälschen ging, auch das Fälschen von Gemälden. Ich war enttäuscht und voller Groll, als die Zahlgewohnheiten um mich herum immer ungreifbarer wurden. Kaum kannte ich mich mit Computern aus, rächte ich mich mit Plänen für einen elektronischen Bankeinbruch. Es war unglaublich, daß es jetzt nur noch um das klickende Verschieben von Zahlen ging, die gar nicht wirklich existierten. Ich fand das noch unglaublicher als die Sache mit den Pralinen.
Wenn der Vater von seinen Touren als Vertreter zurückkam, war er erschöpft und gereizt. Er hatte keine Kraft und keine Lust, sich mit seinem Jungen zu beschäftigen, einem Kind, das nicht geplant gewesen war. Aber den einen Weg zueinander fanden wir doch: Schach. Da konnte man zusammensitzen und mußte nicht reden. Mein Vater war ein impulsiver Spieler mit brillanten Einfällen, aber ohne das Stehvermögen, sie gegen zäh rechnende Gegner wie mich durchzusetzen. Er verlor immer öfter. Was ich ihm nie vergessen werde, ist, daß er nicht verärgert über seine Niederlagen war, sondern stolz auf meine Siege.
Auch im Krankenhaus spielten wir noch. Ich glaube, er war froh, daß die Hetzerei des Verkäuferdaseins ein Ende hatte, als das Herz nicht mehr mitmachte. Er erlebte gerade noch mein frühes Doktorexamen. Er grinste. ›Dr. Martijn van Vliet. Klingt gut. Klingt sehr gut. Das hätte ich nicht gedacht, daß du das schaffst, wo du ständig in Schachclubs herumhängst.‹ Meine Mutter, deren Schnittmuster aus der Mode gekommen waren, zog in eine kleinere Wohnung. Bevor ich mich nach meinem wöchentlichen Besuch verabschiedete, ging ich mit einer Ausrede in ihr Schlafzimmer und legte ein paar Geldscheine in die Schatulle. ›Aber du brauchst das Geld doch selbst‹, sagte sie hin und wieder. ›Ich drucke es‹, sagte ich. ›Martijn!‹ Sie erlebte noch die Geburt von Lea. ›Daß du jetzt Vater bist!‹ sagte sie. ›Wo du doch immer ein so schrecklicher Einzelgänger warst.‹
Auf der Bundesterrasse spielten zwei Männer Schach mit riesigen Figuren, die ihnen bis zum Knie reichten. Die Partie war in den letzten Zügen. Der alte Mann würde verlieren, wenn er jetzt das Naheliegende tat und den angebotenen Bauern schlug. Unsicher sah er mich an. Ich schüttelte
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