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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Unscheinbarkeit. Doch wenn er ans Klavier ging, wich das Gekicher respektvoller Stille. Dann waren die Hände so flink und kraftvoll, daß sogar der Ring gerechtfertigt erschien.
    Er liebte Lea. Liebte sie mit seinem ganzen scheuen Wesen, das sich nur in der Musik nach außen traute. Alter Mann liebt schönes Mädchen – irgendwie war es das natürlich, und dann auch wieder nicht. Er trat ihr nie zu nahe, im Gegenteil, er wich zurück, wenn sie erschien, es war ein Abstand der Bewunderung und der Unberührbarkeit, und ich glaube, er hätte sich vergessen können, wenn er hätte zusehen müssen, wie jemand Lea bedrängte. ›Er nennt Lilli Fräulein Kalbermatten‹, erzählte Lea. ›Ich habe das Gefühl, er tut es meinetwegen.‹ Nach der Maturität sprach sie manchmal von ihm. Dann konnte man spüren, daß sie seine berührungslose Zuneigung und Bewunderung vermißte.
    Er und Marie mochten sich nicht. Keine Feindschaft. Doch sie vermieden es, sich bei den Schulkonzerten zu begrüßen. Wenn beide im Raum waren, konnte man sehen, daß sie dachten: Es wäre besser, wenn es den anderen nicht gäbe.
    Lea steigerte sich von Schulkonzert zu Schulkonzert. Einen Fehler wie beim Rondo machte sie nie mehr. An den roten Flecken am Hals vor dem Auftritt änderte sich nichts, und in den Pausen wischte sie sich unweigerlich die Hand am Kleid ab. Aber ihre Sicherheit wuchs. Trotzdem litt und zitterte ich bei jeder schwierigen Stelle, ich kannte sie ja alle von zu Hause.
    Mit sechzehn spielte sie mit dem Schülerorchester das E-Dur-Violinkonzert von Bach. Von den Proben erzählte sie mit verkniffenem Mund. Das Mädchen, das im Orchester die erste Geige spielte, war zwei Jahre älter als Lea. Sie sprach von sich als der ›Konzertmeisterin‹ und konnte es kaum ertragen, daß Lea die Solistin war. Ihr Instrument klang weniger gut als Leas. Als sie mir nach dem Konzert gegenüberstand, sah sie mich mit einem Blick an, der sagte: Es ist doch nur, weil Sie die Kohle hatten, ihr dieses Instrument zu kaufen.
    Es gab zwei kleine Patzer in Leas Spiel, die Marie zusammenfahren ließen. Trotzdem war es ein glanzvoller Auftritt mit donnerndem Applaus und Stampfen. Marie hatte Tränen in den Augen und faßte mich am Arm, wie sie es noch nie getan hatte. Jemand machte ein Foto von Lea im langen, roten Kleid, das sie mit Marie ausgesucht hatte.« Van Vliet schluckte. »Es ist eines der Bilder, von denen ich am Ende nicht wußte, ob ich sie wegwerfen, zerreißen oder nur wegschließen sollte.«
    Bevor wir bei Lyon nach Genf abbogen, sagte Van Vliet in die Stille hinein: »Joe meldete Lea für den Wettbewerb in St. Moritz an. Hätte er das nur nicht getan. Hätte er es nur nicht getan !«
14
    DIE BEIDEN LETZTEN WOCHEN vor dem Wettbewerb, erzählte er, bekam Lea in der Schule frei. Die meiste Zeit verbrachte sie bei Marie, die alle anderen Stunden abgesagt hatte. Sie probten eine Sonate von Bach. Immer wieder hörten sie sich an, wie Yitzhak Perlman sie spielte. Manchmal arbeiteten sie bis tief in die Nacht hinein, und dann blieb Lea bei Marie. »Seine Stradivari – dagegen hat man keine Chance«, muß sie einmal über Perlmans Geige gesagt haben. Es müssen Worte gewesen sein, die in Van Vliet nachhallten.
    Er träumte, das Ekzem sei wiedergekommen, und manchmal wachte er schweißnaß auf, weil er Lea auf der Bühne vor sich sah, wie sie sich vergeblich an die nächsten Takte zu erinnern versuchte.
    »Wir trafen zwei Tage vor Beginn des Wettbewerbs in St. Moritz ein. Es war Ende Januar, und es schneite unaufhörlich. Leas Zimmer lag zwischen dem von Marie und meinem. Im Ballsaal des Hotels waren sie gerade mit dem Aufbau der Technik fertig geworden. Wir erschraken, als wir die Fernsehkameras sahen. Lea ging auf die Bühne und blieb lange dort stehen. Ab und zu wischte sie sich die Hände am Kleid ab. Sie möchte jetzt üben, sagte sie nachher, und dann ging sie mit Marie nach oben.
    Ich kann den Schnee von damals noch heute auf meinem Gesicht spüren. Er hat mir geholfen, diese Tage zu überstehen. Ich mietete Langlaufskier und war stundenlang unterwegs. Cécile und ich hatten das oft gemacht. Schweigend hatten wir nebeneinander unsere Spur durch den hohen Schnee gezogen, abseits von den üblichen Routen. Es war auf einer dieser Touren, daß wir das erste Mal über Kinder sprachen.
    Kinder kämen für mich nicht in Frage, sagte ich. Cécile blieb stehen. ›Aber warum denn nur?‹
    Ich war seit langem auf die Frage vorbereitet. Die Hände auf die

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