Lea
unseren Augäpfeln. Mein Gott.
›Martijn, der romantische Zyniker!‹ sagte sie, als ich beim nächsten Treffen von Trintignants übernächtigtem Gesicht auf der Fahrt nach Paris sprach und davon, daß er, indem er fuhr und fuhr, alles gegeben hatte, einfach alles. ›Ich dachte nicht, daß es das wirklich gibt !‹ Sie sprach meinen Namen französisch aus, das hatte noch niemand getan, und ich mochte es. Aber Zyniker? Ich weiß nicht, warum sie das sagte und ob sie dabei blieb. Ich habe sie nie gefragt; überhaupt habe ich sie viele wichtige Dinge nicht gefragt. Das merkte ich, wenn Lea mit ihren Fragen kam.«
Marie zählte mehr als alle anderen. Auch mehr als der Vater. Nur wenn es mit Marie Unstimmigkeiten gegeben hatte und sie sich verletzt fühlte, wandte sich Lea wieder ihm zu, und dann wollte sie die dampfenden und tropfenden Spaghetti auf dem Tennisschläger sehen.
»Lea wuchs nun schnell, fast sprunghaft, sie wurde erkennbar die Tochter eines großgewachsenen Vaters. Es wurde Zeit für ihre erste ganze Geige. Wir fuhren nach Zürich, nach Luzern und zu einem berühmten Geigenbauer nach St. Gallen. Katharina Walther war verschnupft, weil mir die Auswahl bei Krompholz nicht genügte. Marie fühlte sich übergangen, als wir mit einem Instrument zurückkamen, das wunderbar anzusehen war und noch viel schöner klang. Es kostete ein Vermögen, und als ich in der Bank stand und Aktien mit Verlust verkaufte, fragte ich mich fröstelnd, was ich da tat. Ich spüre noch heute, wie ich die ersten Schritte auf der Straße mit einer Vorsicht tat, als könnte der Asphalt unter mir jederzeit wegbrechen. Etwas in mir war ins Rutschen geraten, doch ich wollte es nicht spüren und nahm mir statt dessen vor, zu Hause ein kleines Fest zu veranstalten.
Wir saßen am Küchentisch, um die Einladungsliste zu machen. Es kam keine Liste zustande. Marie Pasteur bei uns zu Hause? Und gerade jetzt, nach der Verstimmung? Lea preßte die Lippen aufeinander und zeichnete mit dem Finger Muster auf die Tischplatte. Ich war froh darüber. Caroline? Sie kannte unsere Wohnung; aber als Partygast? Andere Mitschüler vielleicht? Die ganze Klasse, zusammen mit dem Musiklehrer? Ich klappte das Notizbuch zu. Wir hatten keine Freunde.
Ich machte Reis mit Safran, und nach dem schweigsamen Essen ging Lea in ihr Zimmer, um auf der neuen Geige zu üben. Sie hatte einen warmen, goldenen Klang, und nach ein paar Minuten machte es nichts mehr, daß wir keine Freunde hatten.«
Van Vliet erlebte Leas Ehrgeiz, ihren Fanatismus, auch ihre Kälte, wenn ihr jemand im Weg stand. Markus Gerber war längst auf der Strecke geblieben. Ein anderer Junge verliebte sich in die Vierzehnjährige und machte den schrecklichen Fehler, sich zum Geburtstag eine Geige schenken zu lassen. Leas Kommentar war grausam. Bei solchen Gelegenheiten fror der Vater. Doch dann kam sie nach einer verunglückten Stunde bei Marie nach Hause, weinte, schmiegte sich an ihn und war wieder das kleine Mädchen, das hin und wieder sonderbare, ein bißchen unlogische Dinge sagte.
»Dann war da die Sache mit Paganini. Die Griffe, die er verlangt, sind unmenschlich, Lea hat mir gezeigt, wie sie sein müßten. Il diablo , wie sie ihn nannten, konnte eine unglaublich große Spanne greifen. Und für solche Hände schrieb er. Lea begann mit Dehnübungen. Marie verbot es ihr. Sie machte heimlich weiter, las Bücher über Niccolò. Erst als Marie ihr ein Ultimatum stellte, hörte sie auf.
Ich wußte, daß es nicht gutgehen konnte, ich wußte es die ganze Zeit. Der Fanatismus. Die Kälte. Die sonderbaren Äußerungen. Ich hätte mit Marie reden sollen. Sie fragen, ob sie nicht auch merkte, wie gefährlich es wurde. Aber ich … enfin , es war Marie, ich wollte nicht … Und ich wollte ja auch nicht, daß Leas Töne aus der Wohnung verschwänden, es wäre eine fürchterliche Stille gewesen. Später dann habe ich sie gehört, diese schrecklich Stille, diese Totenstille. Heute abend werde ich sie wieder hören müssen.«
Mit jedem Kilometer kamen wir ihr nun näher, dieser Stille in seiner neuen und – wie er gesagt hatte – kleinen Wohnung, die ich mir, ich weiß nicht warum, schäbig vorstellte, mit einem Treppenhaus voller unangenehmer Gerüche. Unwillkürlich fuhr ich langsamer.
»In der Zeit vor dem ersten Wettbewerb, an dem sie teilnehmen würde, wachte ich in der Morgendämmerung auf und dachte: Ich habe mein eigenes Leben vergessen; seit Loyola de Colón denke ich nur noch an Leas Leben.
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