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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Stöcke gestützt, den Kopf gesenkt, sprach ich die Sätze aus, die ich mir zurechtgelegt hatte.
    ›Ich will diese Verantwortung nicht. Ich weiß nicht, wie das geht: die Verantwortung für jemanden übernehmen. Ich weiß es doch nicht einmal bei mir selbst.‹
    Über solche Sätze bin ich nie hinausgelangt. Ich weiß bis heute nicht, was Cécile mit den Sätzen gemacht hat. Ob sie sie verstanden hat; ob sie sie ernst genommen hat. Als sie mir ein gutes Jahr nach der Hochzeit sagte, Lea sei unterwegs, erschrak ich bis ins Mark. Aber sie war zu meinem Anker geworden, und ich wollte sie nicht verlieren.
    Es war neun Jahre her, daß ich die Tür zu ihrem Krankenzimmer zum letzten Mal geschlossen hatte, leise, als könne sie es noch hören. ›Du mußt mir versprechen, daß du gut auf Lea …‹, hatte sie am Tag zuvor gesagt. ›Ja‹, hatte ich sie unterbrochen, ›ja, natürlich.‹ Danach tat es mir leid, daß ich sie nicht hatte ausreden lassen. Auch jetzt, als der aufkommende Wind mir die Schneeflocken ins Gesicht trieb, würgte es mich. In halsbrecherischem Tempo glitt ich zurück ins Hotel.
    Bei ihrem ersten Auftritt war das Lampenfieber etwas gewesen, das Lea zugestoßen war wie eine Krankheit, gegen die man nichts tun kann. In den sechs Jahren, die inzwischen vergangen waren, hatte sie gelernt, es zu überlisten, indem sie sich, wenn ein Auftritt nahte, viele andere Dinge vornahm, die sie in Atem hielten. Und wenn es darum ging, daß sie in der Schule spielte, half es ihr zu meiner Verwunderung, wenn Klara Kalbermatten mit ihrer Gefolgschaft im Publikum saß. Lilli war wütend über den Glanz, den Lea einer Feier zu geben vermochte. Zwar gewann sie jedes Rennen auf der Aschenbahn und im Schwimmbecken; aber sie spürte, daß das als Gegengewicht nicht genügte. Lea wußte das, und wenn sie sah, wie Lilli sich in der ersten Reihe in abgerissener Kleidung hinfläzte, verlor sie alle Scheu, genoß die Situation und bewältigte alle technischen Schwierigkeiten, als seien sie nicht vorhanden.
    In St. Moritz war alles anders. Wenn sie diesen Wettbewerb gewann, konnte sie an eine Karriere als Solistin denken. Ich war gegen eine solche Karriere. Ich wollte nicht zusehen müssen, wie Lea vom Lampenfieber, vom Ärger über Presseberichte und von der Angst um die feuchten Hände aufgefressen wurde. Vor allem aber wollte ich nicht jedesmal um ihr Gedächtnis zittern müssen. Und es gab Grund für solches Zittern. Es war seit dem Fehler beim Rondo nie etwas Schwerwiegendes geschehen, nichts, das man mit meinem Zusammenbruch beim Schach hätte vergleichen können. Die Töne waren nie von einem plötzlichen Vergessen verschluckt worden, die Finger waren nie erstarrt, weil sie nicht wußten, wohin sie als nächstes gleiten sollten. Einmal aber, als sie eine Sonate von Mozart spielte, hatte sie mit dem dritten vor dem zweiten Satz begonnen, und einmal schien es, als wähnte sie sich schon nach dem zweiten am Ende. Joe am Flügel hatte sich wunderbar in der Gewalt und nahm dem Versehen durch ein warmes, väterliches Lächeln die Peinlichkeit. ›Pardon‹, hatte Lea gesagt. Ich hatte davon geträumt, und ich wollte es nie wieder hören, dieses ›Pardon‹. Nie wieder.
    Im Speisesaal des Hotels saßen unter Kronleuchtern alle zehn Teilnehmer des Wettbewerbs und taten, als nähmen sie keine Notiz voneinander. Zwischen den zehn Tischen gab es große Abstände, und diejenigen, die am Tag darauf versuchen würden, sich mit ihren Geigen zu übertrumpfen, sprachen, wie ich fand, übertrieben lebhaft und eifrig mit ihren Betreuern, als wollten sie demonstrieren, daß sie die Gegenwart der Konkurrenten in keiner Weise beschäftigte.
    Lea schwieg und warf hin und wieder einen Blick hinüber zu den anderen Tischen. Sie trug das hochgeschlossene schwarze Kleid, das sie mit Marie gekauft hatte, während ich im Schnee unterwegs war. Es war das Kleid, das sie auch bei ihrem Auftritt tragen würde. Der hohe Kragen würde die roten Flecke der Aufregung am Hals verdecken. Lea hatte die Flecke plötzlich nicht mehr ertragen, und da hatten sie das vorgesehene, schulterfreie Kleid hängen lassen und waren auf die Suche nach etwas anderem gegangen. Das neue Kleid gab ihrem Kopf mit dem aufgesteckten Haar etwas nonnenhaft Strenges, das mich an Marie Curie erinnerte.
    Wir waren die ersten, die den Speisesaal verließen. Als Lea die Tür ihres Zimmers hinter sich geschlossen hatte, stand ich mit Marie im Flur. Es war das erste Mal, daß ich sie rauchen

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