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Lea

Titel: Lea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pascal Mercier
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Abgrund balancierenden Tonfee. Lilli würde immer kämpfen, als wäre High Noon auf einer staubigen, sonnendurchglühten Main Street; Lea würde vorgeben, den Kampf gar nicht anzunehmen, um dann mit einem blitzschnellen, tückischen Manöver aus dem schattigen Hinterhalt heraus alles klarzumachen. Oder war das viel zu sehr meine eigene, miese Art? Würde sie Klara Kalbermatten nicht eher mit Céciles Eleganz als mit meiner Verschlagenheit bekämpfen? Mit den Stichen eines unsichtbaren Floretts?
    In den nächsten Stunden ging ich bei den Adressen vorbei, an denen ich als Student gewohnt hatte, und stand lange vor den Räumen des alten Schachclubs, den es nicht mehr gibt. Einen Teil meines Studiums hatte ich mir hier drin verdient. Martijn der Blindgänger, Martijn die Blindschleiche nannten sie mich, weil ich oft blind gegen mehrere Gegner spielte und die Hälfte des Eintritts kassierte.
    Einmal, ein einziges Mal, erlitt ich einen fatalen Zusammenbruch des Gedächtnisses und verlor alle Partien des Abends. Daraufhin spielte ich ein halbes Jahr nicht mehr. Öfter als sonst ging ich abends bei den Eltern vorbei. Sie waren so schrecklich, so rührend stolz darauf, einen Sohn zu haben, der studierte und das Leben mit bravouröser Selbständigkeit meisterte. Und ich wünschte mir sehnlichst, sie möchten das alles einmal vergessen und starke, beschützende Eltern für einen schwachen, trudelnden Sohn sein, einen Abend lang, einen einzigen Abend nur. Die warnenden Briefe aus der Schule hatte ich stets abgefangen, als Schlüsselkind hat man Macht über den Briefkasten. Woher sollten sie wissen, daß nicht alles war, wie es schien?
    Es war inzwischen früher Nachmittag. Lea würde bald nach Hause kommen, und ich hätte dasein sollen. Doch ich wollte ins Kino, ich wollte auch diese Wiederholung des Vergangenen: mich am frühen Nachmittag bei strahlendem Wetter zur ersten Vorstellung in den dunklen Kinosaal setzen und das Gefühl genießen, das zu tun, was niemand sonst tat.«
    Ich sah Tom Courtenay laufen und triumphierend vor der Ziellinie auf dem Boden sitzen, mittags, nachmittags und in der Spätvorstellung.
    »Ich sah nichts von dem Film. Zuerst dachte ich, es sei, weil Lea nun eine leere Wohnung vorfand, wie am Morgen schon. Doch langsam dämmerte mir, daß es um etwas Größeres ging: Ich stellte mir vor, wie es wäre, wenn es Lea gar nicht gäbe. Wenn ich nicht für sie sorgen müßte. Nicht kochen. Kein erneutes Ekzem befürchten. Kein Üben hören. Kein Lampenfieber. Ich stellte mir vor, eine Nacht durchzufahren und dann vor Marie Pasteurs Tür zu stehen. Ich rannte aus dem Kino und fuhr nach Hause.«
13
    BEI VALENCE FUHREN wir auf einen Parkplatz, damit ich mir die Beine vertreten konnte. Ein eisiger Mistral blies das Rhônetal herunter. Ans Reden war nicht zu denken. Wir standen da mit flatternden Hosen, den schneidenden Wind im Gesicht, das vor kalter Trockenheit zu brennen begann. »Können wir in Genf Pause machen?« hatte Van Vliet vorhin gefragt. »Ich möchte in eine Buchhandlung. Payot in Bern gibt es ja schon lange nicht mehr.«
    Er wollte den Augenblick hinauszögern, in dem er seine Wohnung betreten und die Stille hören mußte, die Abwesenheit von Leas Tönen. »Die Stille, sie ist mir dahin gefolgt«, hatte er über die neue Wohnung gesagt.
    Es gab, dachte ich, einen praktischen Grund für den Umzug: Er lebte jetzt allein. Vielleicht hatte er auch versucht, der Vergangenheit zu entfliehen. Und doch hatte da etwas in seiner Stimme gelegen, ein Ressentiment, als habe ihn jemand gezwungen, in die kleinere Wohnung zu wechseln. Als gäbe es eine Instanz, die Macht über ihn ausübte. Es mußte eine mächtige Instanz sein, dachte ich. Van Vliet war kein Mann, den man ohne weiteres aus seiner Wohnung vertrieb.
    »Es gab diesen Musiklehrer«, sagte er, als wir weiterfuhren. »Josef Valentin. Ein unscheinbarer, fast unsichtbarer Mann. Klein, mausgraue Anzüge, Weste, farblose Krawatten. Schütteres Haar. Nur die Augen waren besonders: dunkelbraun, stets irgendwie erstaunt blickend, konzentriert. Und er trug einen zu großen Siegelring, über den alle spotteten, weil er so überhaupt nicht zu ihm paßte. Die Schüler nannten ihn Joe – ein unmöglicher Name für ihn, und deshalb nannten sie ihn so. Wenn er auf dem Podest stand und das Schülerorchester dirigierte, war er stets in Gefahr, lächerlich zu wirken, er war einfach zu klein und zu dürr, jede Bewegung wirkte, als protestierte er gegen seine

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